Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9 Japan. Eine riesige Flutwelle zerstörte Dörfer und Städte entlang der Nordostküste Japans. Fast 20.000 Menschen wurden unmittelbar getötet. Viele der Toten sind nie gefunden worden. Die Japaner gedenken der Opfer dieses katastrophalen Tages jedes Jahr.
Das Atomkraftwerk Fukushima wurde von Erdbeben und Flutwelle so schwer betroffen, dass die Reaktoren außer Kontrolle gerieten. Nachrichtenkanäle auf der ganzen Welt brachten stunden- und tagelang Lifebilder von der sich anbahnenden Atomkatastrophe. Experten diskutierten zu diesen Bildern, ob wir Zeugen eines Gaus oder eines Supergaus wären. Es kam zur Kernschmelze.
4 von den 6 Reaktoren wurden zerstört. Nach der Katastrophe waren lange Zeit alle Atomreaktoren abgestellt. Selbst heute, sieben Jahre nach dem Unglück sind von den insgesamt 54 Reaktoren Japans nur 5 am Netz.
Eine Entscheidung zum Atomausstieg hat es bis heute in Japan nicht gegeben.
Im Januar 2012, ein knappes Jahr nach dem Beginn der Katastrophe, besuchte ich Japan und auch Dörfer und Städte um Fukushima Daichii. In den letzten Tagen erinnerte ich mich an die Begegnung mit einer jungen Frau, die damals aus ihrer Stadt geflüchtet ist.
Sie schilderte mir, wie schwer die Entscheidung zur Flucht gewesen ist. Gehen oder bleiben? Sie lebt alleine mit ihrer Tochter. Was ist das Beste für das Kind? Die Antwort ist einfach. Aber wie und wovon und wo überhaupt leben, wenn du gehst? Keiner ist da, den du fragen kannst, der dir antwortet, der dir hilft, dich zu entscheiden. Kein Experte, kein Bürgermeister, kein Arzt, der sagt: Geh! Du bist so allein wie nie in deinem Leben. So musst du dir das mit der Flucht vorstellen, sagte sie. Als sie entschied zu gehen, war die Straße aus der Stadt schon die Straße der Flucht. Stoßstange an Stoßstange fuhren die Wagen. Wer weg wollte, hatte nur diesen einen Weg, musste auf diese Straße, musste in diese eine Spur. Als sie entschied zu gehen, war da schon dieser unendliche Fluss der Autos. Es war mehr ein Sog als eine Entscheidung. Sie hat sich eingefädelt. Ohne Ziel. Ohne Plan. Auf der Straße der Flucht gab es nur noch eine Orientierung, nur noch eine Richtung. Weg vom Atomkraftwerk.
Die Frau und ihre Entscheidung fielen mir wieder ein, als in den letzten Tagen vor dem heutigen Jahrestag der Katastrophe von Fukushima Nachrichten aus Japan kamen. Die japanische Regierung drängt, manche sagen zwingt die Evakuierten und die Geflüchteten zur Rückkehr. Es wird damit gedroht, die monatliche Unterstützung für die vom Atomunfall Betroffenen nicht mehr zu zahlen. In Japan sind Tausende von Schadensersatzzahlungen anhängig. Von denen, die ihre Heimat, ihr Haus, ihren Hof verlassen mussten.
Greenpeace Japan, eine heute angesehene Expertengruppe in der Region, hat die Belastung der zur Rückkehr vorgeschlagenen Gebiete und Städte untersucht und die Ergebnisse Anfang März veröffentlicht. Die Belastung ist an vielen Orten so hoch, dass die Rückkehrer riskieren würden, dem Äquivalent einer Röntgenuntersuchung des Brustkorbs ausgesetzt zu sein. Wöchentlich. Von einer Rückkehr vor 2050 raten die Wissenschaftler ab. Ratsam sei, bis zur Jahrhundertwende zu warten.
Die Vereinten Nationen werden sich mit der Menschenrechtslage der Evakuierten und Leidtragenden aus Fukushima erneut beschäftigen. Der Antrag dazu kommt von einer Gruppe von Ländern, unter anderem auch aus Deutschland.
Auf dem Kenotaph, dem Denkmal für die Opfer der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, wurde eingraviert: Ruhet in Frieden. Wir werden diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Kenzaburo Oe, der große japanische Dichter und Nobelpreisträger hat schon im April 2011, also zum Beginn der andauernden Atomkatastrophe von Fukushima erklärt, die Japaner hätten dieses Versprechen schon gebrochen, als sie das erste Atomkraftwerk in Japan in Betrieb nahmen.
In Japan sind von den 54 Reaktoren, die Anfang 2011 in Betrieb waren, heute erst 5 wieder am Netz. Trotz des Drucks der Regierung. Die Auseinandersetzung dauert an. Und Japan hat in Folge des Stillstands der AKW enorme Fortschritte für Erneuerbare und Effizienz gemacht.
In Folge von Fukushima hat sich weltweit der Trend hin zum langsamen aber stetigen Ausstieg gewendet. Das einzige Land, das eine Ausnahme macht, ist China. Dort gibt es ein Neubauprogramm. Aber selbst in China wachsen die Erneuerbaren schneller als die Atomkraft.
In Deutschland wurde nach Fukushima in einem breiten Konsens der Ausstieg zum zweiten Mal beschlossen. Ich halte das für unumkehrbar und bin froh, dass wir das durchsetzen konnten. Die Konsens-Entscheidung nach Fukushima wäre ohne die jahrzehntelange Arbeit der Anti-Atom-Bewegung und der Grünen in Parlamenten und Regierungen so nicht möglich gewesen.
Es gibt in unserer Nachbarschaft dazu noch einiges zu tun. Die nächste Auseinandersetzung, um den Atomausstieg europäisch durchzusetzen, wird eine Änderung des Euratom-Vertrags sein. Wir arbeiten an unserem Vorschlag dazu, der sich auch mit der endlosen Geschichte des Atommülls befasst. Aber am heutigen Tag können wir froh sein, dass das Kapitel der Hochrisikotechnologie Atomkraft bei uns in Deutschland bald abgeschlossen ist. Und dass wir bis heute ohne die Erfahrung einer solchen Katastrophe wie in Fukushima oder auch Tschernobyl davongekommen sind.