Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#flüchtlinge    22 | 02 | 2016

Wie kommt die EU aus der Flüchtlingskrise?

Zwischen vergangenem EU-Gipfel und bevorstehendem Türkei-Gipfel macht sich Rebeca Harms  Gedanken, wie es in der EU weitergehen kann. Kompromisse in der Flüchtlingspolitik, zu Schengen und Außengrenzen, gehören für sie dazu.

Unter dem Titel "Die Außengrenzen sind eine Schlüsselfrage" erschien eine gekürzte Version ihres Beitrags am 22. Februar auf Zeit Online.

Der jüngste EU-Gipfel in Brüssel hat wieder enttäuscht. Wieder lange Debatten ohne wirkliche Ergebnisse. Die Österreicher halten an ihren Tageskontingenten fest. In Deutschland wird über das Asylpaket 2 diskutiert. Die Griechen fordern offene Grenzen als Gegenleistung zu ihrer Zustimmung zum Deal mit Groß-Britannien. Die Türkei, eingeladen zu einem Sondergipfel Anfang März, soll die erhoffte Entlastung auch innerhalb der Europäischen Union bringen.

Wieder schrecken die EU-Mitgliedsstaaten vor grundsätzlichen Veränderungen der Flüchtlingspolitik zurück. Die Debatte um Flüchtlinge, um europäische Solidarität, Grenzen und  Verantwortung in der europäischen Nachbarschaft ist so verworren wie unvermeidbar.  Wir werden mit den Folgen jahrzehntelanger unverantwortlicher Flüchtlingspolitik konfrontiert. Wir erkennen, dass Schengen auf wackligen Füssen steht. Die Außengrenzen funktionieren nicht und die Türkeipolitik war gelinde gesagt kurzsichtig. Und anders als EU-Gegner gern behaupten, ist Brüssel nicht das Zentrum, von dem aus Angela Merkel die EU durchregiert. Brüssel ist der Ort von Verhandlung und Kompromiss. Das darf nicht vergessen werden, wenn Ergebnisse von Gipfeltreffen bewertet werden.

Laut UNO waren zu Beginn des Jahres 2015 rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Tendenz steigend. Schon die Zahlen  zeigen, dass angemessene  Hilfe  nicht  von einzelnen Staaten geleistet werden kann. Und sie zeigen auch, dass nicht alle Probleme des Nahen Ostens oder Afrikas in der EU zu lösen sein werden. Ohne eine neue und große Anstrengung im Rahmen der Vereinten Nationen, in der alle wohlhabenden und stabilen Länder beitragen, wird es nicht gehen. Im Rahmen der UN muss die EU darauf drängen, dass wir nicht länger nur auf katastrophale Zuspitzungen reagieren. Wir müssen mehr Resettlement schaffen und endlich zu angemessenen europäischen Quoten dafür kommen. Mit europäischen Kontingenten könnte besser geholfen und die irrsinnige Geschäftemacherei der Schlepper gebremst werden. EU-Kontingente bleiben auch nach diesem Gipfel richtig, weil damit für die Menschen auf der Flucht und für die aufnehmenden Gesellschaften  mehr Verlässlichkeit geschaffen wird.

Es stellen sich aber sofort die nächste Fragen, die die Politik außerhalb der EU betreffen: Was tun wir für die, die nicht in die Kontingente kommen? Wann ist es richtig, Menschen auf der Flucht in den Regionen um Kriegs- und Krisengebiete besser zu schützen? Wie wird dafür gesorgt, dass sie in Camps nicht nur unterkommen und überleben, sondern ein Leben haben? Die Erfahrungen des UNHCR und internationaler Hilfsorganisationen sind ausreichend, um bessere Wege zu gehen als die bisherigen.

Der europäische Geiz gegenüber den Vereinten Nationen und dem Welternährungsprogramm muss abgelöst werden von großzügigen und zuverlässigen finanziellen Beiträgen. Das konventionelle Verständnis von Hilfe und Versorgung muss abgelöst werden von Konzepten, die die Menschen und ihre Fähigkeiten auch in der Situation des Camps ernst nehmen. Und bei aller berechtigten Kritik an der Politik Erdogans in der Türkei bleibt es doch unverzichtbar, mit der türkischen Regierung darüber zu verhandeln genau wie mit anderen Regierungen in den Nachbarländern Syriens. Immerhin das soll in zwei Wochen konkretisiert werden.

Seit dem Spätsommer 2015 haben in Deutschland, Schweden oder auch Österreich  Freiwillige, BeamtInnen und PolitikerInnen auf allen Ebenen den Paradigmenwechsel von der Abschottung hin zur Offenheit gemeistert. Mal besser, mal schlechter. Die  Anstrengungen von Freiwilligen gibt es übrigens entlang der ganzen Balkanroute. In Deutschland, das wohl das beliebteste Land unter den Flüchtlingen ist und das seine Grenzen allein noch weiter offen hält, stehen viele Flüchtlinge in einer Phase zwischen Ankunft und dem eigentlichen Aufbruch in die neue Gesellschaft. Diejenigen, die sich in den Kommunen und gerade in großen Städten mit Sprachunterricht, Schule, Aus- und Weiterbildung, Wohnungen und  Jobs  befassen,  sagen immer noch, dass sie das schaffen können. Aber sie fragen schon, wie in Zukunft die anderen Mitgliedstaaten der EU ihren Teil der Verantwortung in der Flüchtlingskrise übernehmen werden. Und sie sagen offen, dass in Zukunft nicht jedes Jahr im gleichen Umfang Menschen aufgenommen werden können, wenn das Versprechen auf Integration gut verwirklicht werden soll. Und auch wenn Deutschland anders als Schweden oder Österreich nicht die Schließung der Grenze beschlossen hat, vertritt die Bundesregierung, unterstützt aus den Bundesländern, dass die Zahlen der Neuankommenden nach unten gehen müssen. Meldungen aus Griechenland seit Beginn des Jahres 2016 und die Folgen des russischen Bombenkrieges gegen syrische Städte lassen ahnen, dass das mehr Wunsch als Wirklichkeit ist.

Es bleibt dabei: Die Europäer müssen sich dringend verständigen über die Verantwortung, die sie gemeinsam innerhalb der EU und außerhalb übernehmen wollen. Als die Bundeskanzlerin angesichts der bedrohlichen Eskalation in Budapest, in der Viktor Orban die Flüchtlinge auf dem Bahnhof Keleti zu Geiseln seiner nationalistischen und antieuropäischen Politik gemacht hat, die deutschen Grenzen geöffnet hat, war das nicht allein eine moralische Entscheidung. Es geschah, weil in dieser Zuspitzung die Europäerin Angela Merkel das Scheitern der Abschottung durch das Dublin-System erkannt hat. Und es geht seit der Zuspitzung auf dem Budapester Bahnhof Keleti für Angela Merkel und andere verantwortungsbewusste  Europäer auch um die innere Freiheit der EU garantiert durch offene Binnengrenzen.

Damit Schengen nicht nur als Mini-Schengen eine Chance hat, müssen die lange verdrängten Fragen zu Außengrenzen zunächst akut aber dann auch dauerhaft beantwortet werden. Die griechische Regierung hat inzwischen 1800 Beamte von Frontex angefordert zur Unterstützung der Kontrolle und des Managements der Grenze zur Türkei.  Laut Aussage aus Athen sind erst 800 eingetroffen.

Die Entsendung von Grenzschützern und das kontrollieren von Grenzen beantwortet nicht die Frage nach dem Umgang mit der Einreise von Menschen auf der Flucht nach Europa.  Wie soll an den Hot Spots in den Ankunftszentren über Einreise oder Abweisung entschieden werden? Wie gewährleisten wir das Recht auf Asyl? Wie, wo, von wem und nach welchen Regeln wird eine rechtsbasierte Entscheidung getroffen, ohne dass daraus wegen der hohen Zahl der Ankommenden Willkür wird? Wie können die Zentren funktionieren, wenn EU-Mitgliedstaaten die Übernahme von Flüchtlingen verweigern?  Dass es aus Schweden heißt, dass mindestens 40 Prozent der Neuangekommenen im Jahr 2015 keinen Schutzstatus bekommen werden  und eigentlich zurückgeführt werden sollen, zeigt die Notwendigkeit der Klärung. Der geplante Sondergipfel allein  wird diese Fragen nicht bewältigen können

Der Verlauf der Debatte zwischen den Regierungen auf dem Gipfel lässt nicht erwarten, dass die Mitgliedstaaten plötzlich großzügigste Angebote zur Aufnahme von Flüchtlingen machen.

Aber im Interesse der vielen Menschen auf der Flucht und der Europäer muss dringend gehandelt werden, denn nur gemeinsam wird man viel mehr Menschen helfen können.  Die Verteilung von 160.000 Menschen, die schon im Herbst beschlossen worden ist, darf nicht aufgegeben werden. Wenn zwei oder drei große Staaten den Löwenanteil leisten, dann bleiben für die restlichen 25 Mitgliedstaaten recht überschaubare Gruppen übrig. Wir brauchen mehr gemeinsame und bilaterale Finanzierung von Infrastruktur für Flüchtlinge in den Herkunftsregionen. Wir müssen Konzepte für die Hilfe dort neu denken und verändern. Auch wenn es sperrig ist, bleibt es unverzichtbar,  europäische Resettlement-Kontingente mit der UN großzügig zu verhandeln. Es ist richtig, alle Fragen zu Außengrenzen im Bewusstsein der aktuellen Probleme zu beantworten. Grenzmanagement ist offenkundig eine Leistung, die wir europäisch gut machen müssen, damit die Aufnahmebereitschaft in einigen Ländern dauerhaft wird und in anderen wächst. 

Es ist schwer zu sagen, wann und wie welche Knoten gelöst werden. Kompromisse in der EU erscheinen ja oft schräg. Das liegt nicht an den Brüsseler Institutionen. Die EU ist so stark und so handlungsfähig, wie die Mitgliedstaaten sie lassen. Wenn eine Gruppe von Staaten voran gehen will, dann ist das zu begrüßen. Ich halte es für möglich, dass die Mitgliedstaaten auf den verschiedenen genannten Feldern unterschiedlich beitragen und sich ein neues Ganzes ergibt, das besser ist, als die langjährige Verdrängung der Probleme und die Abschottungsstrategie des Dublin-Systems. Und neben der Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und des Asylrechtes wird es dann hoffentlich auch möglich werden, ein zeitgemäßes  europäisches Einwanderungsrecht zu schaffen.

 

Fotos

Flüchtlinge in Budapest ohne titel

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