Der Gastbeitrag von Rebecca Harms ist am 16. November 2015 in der Frankfurter Rundschau auf Seite 10 erscheinen.
Nach Wochen des Zauderns scheint endlich sogar die Europäische Kommission eingesehen zu haben, dass der Abgas-Skandal um Volkswagen nicht ohne politische Konsequenzen bleiben darf. Die EU-Kommissarin für den Binnenmarkt, die mehrfach und lautstark versichert hatte, dass VW ein Einzelfall und sonst alles in Ordnung sei, hat angekündigt, die Test- und Kontrollverfahren in den EU-Mitgliedsstaaten unter die Lupe zu nehmen. Besser spät als nie, könnte man sagen.
Wichtig ist, dass es nicht bei Stichproben oder kosmetischen Änderungen bleibt. Der Skandal um die Abgaswerte, von dem wir sicherlich immer noch nicht alles wissen, bestätigt, dass das gesamte Test- und Kontrollverfahren in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) unzuverlässig ist und geradezu zum Betrügen einlädt. Wir wussten, dass wir eine Neuordnung der Kontrollen und Tests brauchen, die den Namen verdienen und auf die sich der Verbraucher verlassen kann. Jetzt müssen die Politiker in Brüssel und den EU-Hauptstädten endlich den Mut dazu haben.
Beginnen wir mit den Tests: Bisher werden sie in Labors durchgeführt unter Bedingungen, die mit realen Fahrsituationen auf der Straße recht wenig zu tun haben. Alle Automobilhersteller optimieren ihre Fahrzeuge für diese Tests, so dass sie zwar gute Testergebnisse erhalten und diese als Verkaufsargument nutzen können. Von den tatsächlichen Emissionen sind die Ergebnisse aber weit entfernt.
Volkswagen ist über diese legalen Tricks hinausgegangen und hat extra eine Software entwickelt, die diese Testsituation erkennt und die Abgasreinigung einschaltet. Ob andere Konzerne das auch getan haben, wissen wir nicht. Es fehlt nach wie vor eine umfassende, EU-weite Untersuchung aller Hersteller. Die Deutsche Umwelthilfe hat bereits auf Unregelmäßigkeiten bei Opel hingewiesen.
Solange solche Ergebnisse nicht von unabhängigen Stellen untersucht werden - wie es in den USA der Fall war - bleibt die Wahrheit im Dunkeln. Deshalb brauchen wir eine ordentliche EU-weite Untersuchung aller Autohersteller. Das Europäische Parlament sollte dafür einen Untersuchungsausschuss einrichten - vor allem, um herauszufinden, wie viel EU-Kommission und Regierungen in den Mitgliedsstaaten bereits gewusst haben, bevor der Skandal aus den USA herüberschwappte.
Nun haben kürzlich die Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten neue Testverfahren für die Stickoxidmessungen verabschiedet, die von 2017 an gelten sollen. Diese Messungen sollen nicht mehr im Labor stattfinden, sondern auf der Straße. "Real driving", also "echtes Fahren" steht drauf. Gemogelt wird weiter. Zwar kommen die Tests raus aus den Labors. Den Autoherstellern wird aber eine riesige Toleranzspanne zugestanden.
Für eine Übergangszeit werden Fahrzeuge die Zulassung erhalten, die im Straßentest mehr als das Doppelte des eigentlichen Grenzwertes ausstoßen und selbst nach 2020 dürfen sie noch 50 Prozent über dem Grenzwert liegen. Warum? Weil die Autoindustrie - allen voran die deutsche - laut genug gejammert hat, dass zu strenge Grenzwerte die Branche kaputt machen würden. Wenn man jedoch bedenkt, dass diese Grenzwerte bereits 2007 beschlossen wurden und in den USA weit strengere Grenzwerte gelten, ist dieses Argument kaum nachvollziehbar. Es gibt längst Dieselfahrzeuge, die die Grenzwerte auch ohne Betrug einhalten.
Deshalb muss die Entscheidung über die Testverfahren rückgängig gemacht werden. Das Europäische Parlament kann dafür sorgen, dass die Mitgliedsstaaten neu entscheiden müssen. Dafür werden wir in den kommenden Wochen kämpfen und hoffen auf die Unterstützung der anderen Fraktionen.
Gleichzeitig muss die Europäische Kommission dafür sorgen, dass Tests in der EU kontrolliert werden. Es nutzt nichts, Grenzwerte festzulegen, wenn hinterher niemand kontrolliert, ob sie eingehalten werden. Wir brauchen eine europäische Kontrollbehörde. Diese muss unabhängig sein von den Autoherstellern und darf auch nicht von diesen finanziert werden.
Bei den Abgastests ist es wie überall: Die Industrie sperrt sich gegen zu strenge Regeln und wirft als Argument den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen in den Ring. Dabei sehen wir doch gerade im Falle Volkswagen, dass es eben nicht die strengeren Regeln sind, die Arbeitsplätze in Gefahr bringen, sondern die Unternehmen selbst, wenn sie mit Betrug versuchen, die ohnehin schon laschen Regeln zu umgehen. Wie stark der Einbruch bei Volkswagen sein wird, ist noch nicht abzusehen. Aber wer will schon bei jemandem ein Auto kaufen, von dem er weiß, dass er betrügt und lügt? Hier sollten Gewerkschaften und Politiker laut aufschreien und nicht, wenn Grenzwerte beschlossen werden, die unsere Autoindustrie zukunftsfähig machen.
Das gilt nicht nur für die Stickoxidgrenzwerte, sondern auch für die CO2-Grenzwerte für Autos. Alle scheinen überrascht, dass CO2- und Verbrauchsangaben der Hersteller meistens nicht mit dem tatsächlichen Verbrauch der Fahrzeuge übereinstimmen. Dabei haben Umweltorganisationen schon seit langem darauf hingewiesen, dass der Etikettenschwindel zunimmt. Auch für CO2-Grenzwerte brauchen wir Straßentests und unabhängige Kontrollen. Dann haben wir eine Chance, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher darauf verlassen können, dass die Versprechen, die ihnen die Automobilhersteller machen, auch tatsächlich eingehalten werden. Das ist unsere Verantwortung als Politiker. In Berlin und in Brüssel.
Rebecca Harms ist Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament.