Die Bewertungen der 4 Wahlbeobachtungsteams des Europäischen Parlaments waren für die besuchten Städte Lviv, Kiew und Donezk sehr ähnlich und durchweg positiv. Die Durchführung des ersten Wahlganges war entsprechend der Regeln und trotz angeblich unzureichender Finanzierung professionell, soweit wir das in den Bezirken, für die wir eingeteilt waren, beobachten konnten. Wir haben keine Beanstandungen erhoben. In der Gesamtschau bleibt sicher das Problem des ungleichen Zugangs zu Medien. Sicher ließe sich auch das Registrierungsverfahren verbessern. Und die Auszählung selbst können wir nicht bewerten, weil wir an ihr nicht teilgenommen haben. Dafür waren aber Beobachter der ukrainischen Parteien in den Wahllokalen, die ich mit meinem Team besucht habe, anwesend.
Der positive Ablauf der Wahl ist vor allem ein Erfolg, den sich die Vorkämpfer der Orangenen Revolution auf ihre Fahnen schreiben können. Auch die dann doch recht hohe Wahlbeteiligung ist ein Bekenntnis der Ukraine insgesamt zu freien Wahlen und zur Bedeutung von Wahlen für die Demokratie. In den nächsten drei Wochen bis zur Stichwahl kommt es nun auf Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko an. Sie und die Mitglieder und Anhänger ihrer Blöcke müssen im fair play den Wählern ihre Angebote und Programme klarmachen. Die Bürgerinnen und Bürger in Kiew haben offenkundig die ewige Wiederholung gegenseitiger Unterstellungen satt und wollen Perspektiven für das Land und sich selber. Wenn es gelingt, den Wahlkampf der nächsten Wochen und die Wahl wieder entsprechend der Regeln durchzuhalten, dann setzt sich damit der demokratische Geist der Orangenen Zeit weiter durch.
Die Enttäuschung über die letzten 5 Jahre trifft am stärksten Viktor Juschtschenko. Dass die versprochenen Reformen nicht kamen, dass die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise die Ukraine besonders hart getroffen hat, dass es vielen Bürgern heute nicht besser sondern schlechter geht liegt sicher nicht allein an Viktor Juschtschenko. Aber mit seinem erwartungsgemäß schlechten Abschneiden zahlt er die Rechnung für einen Politikstil, der egoistisch und egozentrisch ist. Nicht nur er sondern auch seine großen Widersacher frönen diesem Stil. Nicht das Allgemeinwohl sondern das Interesse der obersten Schichten in Wirtschaft und Politik ist das Zentrum ihrer Kämpfe. Das war nicht das Ziel, das die Ukrainer 2004 vor Augen hatten, als sie so mutig gegen das Kutschma-Regime und seine Wahlfälscher auf die Strasse gingen und dort blieben, bis der Präsident und seine Truppen aufgegeben hatten.
Jetzt müssen die Wählerinnen und Wähler in der Ukraine entscheiden, wer von den beiden verbleibenden Kandidaten für die überfälligen Reformen im Land sorgen kann. Die Ergebnisse lassen eine Chance für Julia Timoschenko. Mit dem bisher führenden Viktor Janukowitsch käme der Mann ins Präsidentenamt, der das Lager der Wahlfälscher von 2004 repräsentiert. Das schmerzt. Das wirft aber auch Fragen an die Köpfe der Orangenen auf. Eine Vorhersage über den Ausgang der Stichwahl ist schwierig. Bei aller Vorliebe für den Kurs der Ukraine nach Westen, ist für uns Beobachter geboten, jetzt die Wahl den Ukrainern zu überlassen. Ich habe in den letzten Tagen wieder gehört, gesehen und gefühlt, wie weit die Bürger in Kiew schon sind, wie selbstverständlich echte Wahlen für sie sind. Für die meisten Wählerinnen und Wähler, mit denen ich gesprochen habe, selbst wenn sie nicht im orangenen Lager gewählt haben, ist ein Zurück in Verhältnisse eines Systems nach russischem Vorbild kein Weg.
Die Ukraine liegt nicht nur geografisch in Europa. Das zeigen die Eindrücke und Stimmungen aus den Wahllokalen. Wenn wir die demokratische Entwicklung dort unterstützen wollen, dann dürfen wir es nicht mit Beitrittsversprechen bewenden lassen. Die Mitgliedschaft in der EU ist so oft von EU-Politikern in Aussicht gestellt worden und rückt trotzdem in die Ferne, weil wir uns nach unserem Engagement in den orangenen Zeiten nicht engagiert mit dem Politikstil der ukrainischen Elite auseinandergesetzt haben. Den Politikern in der Ukraine muss man vorwerfen, dass sie nie konsequent für Reformen gearbeitet haben, die den Weg in Richtung Brüssel untermauern würden. Aber gleichzeitig muss sich die EU-Politik den Vorwurf gefallen lassen, dass sie so gut wie nie ernsthaft in die Auseinandersetzung mit dem ukrainischen Präsidenten, der Regierung oder dem Parlament eingestiegen ist. Die Beziehungen zu Moskau waren manchem wichtiger als die Sorge um die Entwicklung der Demokratie in der Ukraine. Die Einordnung Richtung Westen und der sichere Fluss von Gas war den meisten EU-Regierungen genug. Dieses laisser-faire des Westens war bequem aber schlecht für die Ukraine und damit auch für uns. Wir dürfen den Ländern in unserer Nachbarschaft auf keinen Fall mit so viel Desinteresse begegnen wie wir uns das im Fall "Ukraine" leisteten.
Ich hoffe, dass in Kiew nicht das Rad zurückgedreht wird, wenn in drei Wochen die Stichwahl stattfindet. Aber wie auch immer der Ausgang ist, muss doch das Ergebnis, wenn es in freier fairer Wahl zustande kommt, von allen respektiert werden. In Brüssel muss der Kommissar, der für Nachbarschaftspolitik zuständig sein wird, kontinuierlicher und mit viel mehr Engagement arbeiten. Nicht nur wenn es wieder ums Gas gehen wird. Eine demokratische und stabile Ukraine ist auch Voraussetzung für dauerhafte Freiheit, Demokratie und Sicherheit auf dem Kontinent.