Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#anfrage    18 | 10 | 2010

Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke

Parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission von Rebecca Harms vom 18. Oktober 2010

 

Der deutsche Strommarkt ist derzeit so stark konzentriert, dass die Konzentrationsindizes CR3 (0,67) und CR5 (0,84) die kritischen Grenzwerte (0,5 bzw. 0,66) überschreiten(1). Der im Jahr 2002 vereinbarte Atomausstieg hätte eine deutliche Öffnung des Marktes zur Folge. Die vier größten Stromerzeuger (RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall) würden 23 % (20 000 MW) ihrer Grundlast-Produktionskapazitäten einbüßen(2), wodurch anderen Akteuren der Markteinstieg ermöglicht würde. Am 28. September legte die deutsche Bundesregierung jedoch ihre Pläne zur Verlängerung der Laufzeit von 17 Kernkraftwerken um 8‑14 Jahre vor. Durch den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke der vier größten Stromerzeuger werden nicht nur Investitionen neuer Wettbewerbsteilnehmer verhindert, sondern die vier Unternehmen können auch zusätzliche Gewinne in Höhe von 100‑150 Mrd. EUR(3) aus dem Stromverkauf und verlängerte Zinserträge aus Rückstellungen für die Stilllegung einstreichen.

 

In einem ähnlichen Fall eines möglichen Verstoßes gegen das EU-Wettbewerbsrecht und die Vorschriften für staatliche Beihilfen (Vereinbarung zwischen Suez und der belgischen Regierung) — dem Vorhaben der belgischen Regierung, die Laufzeit ihrer Kernkraftwerke zu verlängern — hatte die Kommission Untersuchungen eingeleitet und eine „formelle Klage“ eingereicht, was dazu führte, dass das Projekt nun auf Eis liegt.

 

1. Wird die Kommission im Fall Deutschland ebenso tätig werden wie in Belgien und Fragen an die deutsche Regierung und diejenigen Wettbewerbsteilnehmer richten, die durch die Vereinbarung in Deutschland möglicherweise benachteiligt werden?

 

2. Steht die geplante Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke im Widerspruch zu Artikel 106 AEUV, wonach es dem Gesetzgeber untersagt ist, Vorschriften zu verabschieden, die einzelne Wettbewerbsteilnehmer bevorzugen?

 

3. Handelt es sich bei den zusätzlichen Gewinnen einiger weniger privilegierter Stromerzeuger infolge der geänderten Pläne der Bundesregierung nach Ansicht der Kommission um staatliche Beihilfen, obwohl andere Wettbewerbsteilnehmer gar nicht die Möglichkeit hatten, Angebote für die 20 000 MW „zusätzliche“ Produktionskapazität zu unterbreiten?

 

4. Erwägt die Kommission, die vier größten Stromerzeuger zur Verhinderung einer weiteren Marktkonzentration zu verpflichten, andere Produktionskapazitäten an ihre Konkurrenten zu verkaufen, oder ihre Möglichkeiten zu begrenzen, in Wachstumsmärkte mit potenziellem Neueintritt zu investieren, wie z. B. erneuerbare Energien?

 

5. Muss die Kommission in Anbetracht der Tatsache, dass E.ON sowohl von der belgischen als auch von der deutschen Entscheidung zugunsten einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke profitieren würde, ihre Vereinbarung mit E.ON wieder lösen, da die derzeitige Vereinbarung eindeutig auf dem ursprünglich von Deutschland geplanten Atomausstieg beruhte?

 

(1) Öko-Institut e. V., „Marktkonzentration im Bereich der Stromerzeugung in Europa, 1996‑2005. Eine empirische Analyse“, Februar 2007.

(2) Bundeskartellamt.

(3) Öko-Institut e. V., „Auswertungsaktualisierung des am 5. September 2010 ausgehandelten Modells für die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke“, September 2010.

 

 

 

Antwort von Herrn Almunia im Namen der Kommission

 

1. Die Kommission verfolgt aufmerksam die Pläne verschiedener europäischer Regierungen, die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke zu verlängern, damit sie vermeiden kann, dass diese Verlängerungen den Wettbewerb verzerren.

 

Bezüglich der Entscheidung der deutschen Regierung über die Verlängerung der Laufzeiten hat die Kommission zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine formelle Klage gegen diese Entscheidung erhalten; zudem hat sie gerade erst mit einer ersten Prüfung der ihr vorliegenden Unterlagen begonnen.

 

2. Wettbewerbsverzerrungen können — theoretisch — in dem Fall auftreten, da die Laufzeitverlängung von Atomkraftwerken ausschließlich einem marktbeherrschenden Produzenten zugutekommt. Ob jedoch eine staatliche Maßnahme zur Gewährung einer Laufzeitverlängerung tatsächlich gegen Artikel 106 Absatz 1 AEUV verstößt, ist nicht so einfach zu klären.

 

Im Falle Deutschlands ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich nicht um einen einzigen Atomkraftwerksbetreiber handelt, dem eine Laufzeitverlängerung zugutekäme, sondern um mehrere Betreiber (E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW) sowie andere Unternehmen, die Bezugsrechte von Atomkraftwerken halten.

 

Die Frage eines eventuellen Verstoßes gegen Artikel 106 Buchstabe e AEUV müsste daher sehr sorgfältig auf der Grundlage der besonderen Merkmale der deutschen Märkte untersucht werden. Hierfür müssen nicht nur die jüngsten Entwicklungen in der Marktstruktur und im Erzeugungsportfolio sowie mögliche Veränderungen bei der Stellung der führenden Energieversorger berücksichtigt werden, sondern ebenfalls die Frage, ob und in welchem Umfang die Begünstigten der Laufzeitverlängerung tatsächlich einen Vorteil hierdurch erhalten (angesichts der Ausgleichsmaßnahmen wie z. B. die Steuer auf Kernbrennstoffe). Es muss außerdem geprüft werden, ob diese Verlängerung beispielsweise mit der Sicherstellung der Versorgungssicherheit oder der Verwirklichung der Klimaschutzziele sachlich gerechtfertigt werden könnte.

 

3. Wie bereits von der Kommission in einer Antwort auf eine frühere schriftliche Anfrage (E‑5048/09)(1) erwähnt, ist der Beschluss einzelstaatlicher Regierungen, die Laufzeitverlängerung bestimmter Atomkraftwerke zu genehmigen, nicht an sich als ein selektiver, durch staatliche Mittel finanzierter wirtschaftlicher Vorteil zu betrachten, so dass es sich offenbar nicht um staatliche Beihilfen im Sinne von Artikel 107 AEUV handelt. Die Tatsache, dass eine derartige Maßnahme den betreffenden Betreibern zusätzliche Gewinne bringen könnte, die diese sonst nicht erzielt hätten, scheint nichts an dieser Schlussfolgerung zu ändern. Gleiches gilt für die Tatsache, dass eine derartige Maßnahme die Notwendigkeit neuer Investitionen in die Energieerzeugung auf dem betreffenden Markt und entsprechend die Chancen für potenzielle Investoren verringert.

 

4. Da kein Verstoß gegen das EU‑Wettbewerbsrecht festgestellt wurde, kann sich die Kommission nicht zu hypothetischen Verpflichtungen, wie den in der Anfrage vorgeschlagenen, äußern.

 

5. Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung (EG) 1/2003 sieht die Möglichkeit vor, dass die Kommission das Verfahren wieder aufnehmen kann, wenn sich die Umstände des Sachverhalts in einem wichtigen Punkt geändert haben. Die geplante Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in Belgien und Deutschland ist für die Entscheidung der Kommission in der Beihilfesache E.ON-Strom vom November 2008 nicht entscheidend. Die von der Kommission in diesem Fall akzeptierten Verpflichtungszusagen wurden für eine Veräußerung von Erzeugungskapazität verschiedener Erzeugungsarten gegeben, einschließlich atomarer Erzeugungskapazität, die die relative Stärke von E.ON bei diesen verschiedenen Erzeugungsarten widerspiegeln. Die Entscheidung gründete sich nicht auf die Vermutung eines Atomausstiegs. In den Verpflichtungen ist ausdrücklich eine Klausel enthalten, die eine mögliche Verlängerung der Laufzeit von atomaren Kapazitäten betrifft, und es wird dem Erwerber von Bezugsrechten ermöglicht, seine Rechte gegebenenfalls entsprechend zu verlängern(2). Die Verlängerung der Nutzungsrechte von E.ON für Atomenergie würde sich daher in eine (mögliche) Verlängerung der von E.ON zugesagten Bezugsrechte niederschlagen.

 

(1) http://www.europarl.europa.eu/QP-WEB/application/home.do?language=DE

 

(2) Siehe Absatz 1.3. der Verpflichtung 2-A der Sache E.ON-Strom, zugänglich im Internet:

http://ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/dec_docs/39388/39388_2796_1.pdf

 

 

 

 


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