Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#europa    01 | 10 | 2012

Interview mit der taz: "Die EU kann nicht perfekt sein"

Rebecca Harms sprach mit Ruth Reichstein in einem Interview für die tageszeitung (taz) über die Eurokrise, europäischen Pathos, nötige Veränderungen des Europäischen Parlaments und europäische Medienpolitik.

 

Die ungekürzte Version des Interviews können Sie hier nachlesen.

 

taz: Frau Harms, aus Brüssel kommen jetzt in der Krise immer wieder die gleichen Slogans: Die EU darf nicht auseinanderbrechen. Es ist eine Frage von Krieg oder Frieden auf dem Kontinent. Kommt das überhaupt noch an bei den Bürgern?


Harms: Die Europäische Union muss und wird sich immer aus der Geschichte begründen. Das mehrfache Wunder der Einheit muss durch kein Narrativ abgelöst werden. Jeder Eurpäer muss erkennen können, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft wurde. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist auch heute nicht banal. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben. Ein anderes großes europäisches Versprechen muss eingelöst werden. Das ist das Versprechen auf gutes Leben.

 

taz: Erzählen Sie das einmal einem Jugendlichen in Spanien oder Griechenland, der seit Monaten keine Arbeit findet! Der würde garantiert nicht unterschreiben, dass die EU seine Lebensverhältnisse verbessert.


Harms: Nein. Mit der einseitigen Politik, die in den sogenannten Krisenländern ausschließlich auf Sparmaßnahmen setzt, bekommt die EU ein Profil, das für Härte und Ungerechtigkeit steht.Die Not der Bürger in den Krisenländern lässt den Glanz des Pathos sonst schnell abblättern. Europäische Politik darf nicht tolerieren, dass da Europäische Sozialmodel in etlichen Mitgliedstaaten eine Fiktion geblieben ist und in anderen immer schwächer wird.

 

taz: Genau dieser Pathos, der gerade hier in Brüssel gerne verbreitet wird, geht vielen Bürgern auf die Nerven!

 

Harms: Ich glaube, angesichts der Schwierigkeit von vielen sich von Herzen zur Europäischen Union und zu Brüssel zu bekennen, flüchten sich viele Politiker ins Pathos. Das ist scheinbar einfach kann aber allein nicht wirken. Wir schaffen nicht,gut zu erklären, wie viel des gemeinsamen Fortschritts in der Gemeinschaft möglich wurde.

 

taz: Woran liegt das?


Harms: Diejenigen, die in Brüssel arbeiten, sind zu weit weg von den Leuten, die sie wählen. Das, was im normalen Abgeordnetenalltag eine Voraussetzung ist für die Erklärung von Politik, dass man nämlich Zeit gemeinsam verbringt im Wahlkreis oder im Bundesland, dass man sehr engen Kontakt selbst zur lokalen Presse hat, das gibt es fast gar nicht oder nur sehr reduziert für uns Europäer. Und es sind nun einmal die Europaabgeordneten, die die Fragen der Bürger aufnehmen und beantworten müssen. Ich bin sicher, dass sich auch unser Parlament ändern muss.

 

taz: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bezeichnete das Europäische Parlament kürzlich als „Sondermülldeponie“ für aussortierte nationale Politiker.


Harms: Mit Atommüll kenne ich mich sicher besser aus als er. Und ich weiß nicht, was er überhaupt vom Parlamentarismus hält. Ich würde ihn gern mal ein paar Tage im Parlament sehen. Und dann mit ihm wieder über Sondermüll reden.

 

taz: Sie sagen, das Parlament müsste sich verändern. Wie könnte das aussehen?


Harms: Ich denke oft, dass wir falsche oder keine Prioritäten setzen. Wir verlieren uns in technischen Details von Richtlinien und Verordnungen, die woanders von Beamten in Ministerien bearbeitet werden. Das kostet viel Zeit und Arbeit. Auch die Debattenkultur leidet unter dem Druck der vielen Themen und dem Hang zum Detail. Die Aufmerksamkeit für unsere Arbeit leidet auch darunter, dass EU-Politik immer noch als Außenpolitik gefühlt wird. Wir müssen es schaffen, dass die Bürger dem, was in Brüssel passiert, die gleiche Bedeutung beimessen, wie dem, was aus Berlin kommt.

 

taz: Aber genau das schaffen Sie bisher eben nicht. Liegt das auch daran, dass es keine europäische Medienpolitik gibt?

 

Harms: Es gibt die verzweifelten Versuche, europäische Medien durch eine Finanzierung aus europäischen Töpfen zu schaffen. Dazu gehört zum Beispiel der Internetfernsehkanal des Europäischen Parlaments „Europarl-TV“. Aber solche Propaganda-Kanäle können nicht erfolgreich funktionieren. Eine gemeinsame Öffentlichkeit lässt sich nicht nicht verordnen.

 

taz: Gibt es heute überhaupt eine gemeinsame Vorstellung in den 27 Mitgliedsstaaten, was die EU ist oder was sie sein sollte?


Harms: Im EU-Parlament gibt es ein klares Bekenntnis einer grossen Mehrheit zur Stärkung der Union. Da gibt es einen fraktionsübergreifenden Konsens, aus dem nur sehr wenige ausscheren. Bei den Europäischen Grünen versuchen wir gerade einen tieferen Konsens zu erarbeiten, wie wir die notwendige Schritte für eine Wirtschafts- und Sozialunion gemeinsam vorantreiben wollen, wie wir gewährleisten können, dass Demokratie, Ökologie und Gerechtigkeit dabei europäisch neu verankert werden. Aber mit der Dauer der Krise ist die Zögerlichkeit, Souveränität nach Brüssel zu geben gewachsen. Dabei verschärft sich genau dadurch die Krise.

 

taz: Robert Menasse schreibt auch, die Regierungen huldigen wieder dem Nationalen.


Harms: Die politischen Eliten versagen in den Debatten. Sie suggerieren, dass der Nationalstaat allein im Zweifelsfall besser funktioniert. Leichtfertige Positionen greifen Raum: Schaffen wir den Euro einfach ab. Oder: Schmeißen wir die Griechen doch raus. Solche Sätze sagen auch: Allein wären wir besser dran. Wer das sagt, hat nicht recht. Das zeigt nicht nur die Geschichte sondern auch viele Daten zur Wirtschaft. Und wer das sagt, stellt eben doch die ganze Europäische Union in Frage.

 

taz: Trotzdem ist die EU doch alles andere als perfekt, oder?

 

Harms: Die EU kann nicht perfekt sein. Wie waren doch auch immer stolz auf die Einheit in Vielfalt. In so einem heterogenen Gebilde aus 27 Staaten muss man zum Unperfekten stehen. Die EU ist nicht fertig. Europa ist ein großartiger Prozess, selbst wenn es nie fertig und nie perfekt sein wird. Es gibt über 40 Sprachen in der EU. Am häufigsten gesprochen wird die Sprache der Übersetzung und zwar nicht nur zwischen den Sprachen, sondern auch zwischen den verschiedenen Kulturen der Mitgliedsstaaten.

 

taz: Ist die EU dann überhaupt noch erhaltenswert?

 

Harms: Über alle Maßen erhaltens- und liebenswert. Wer sich auf der Welt umschaut stellt fest: Die Konsenssuche, die Reibung, die Auseinandersetzung mit den Partnern haben mehr gutes und friedliches hervorgebracht als irgend ein anderer Weg. Ein homogenes Europa, in dem wir aus der Zentrale Brüssel durchregieren, sehe ich nicht als die Alternative. Wir brauchen die Reibung auch zur Selbstverständigung. Die letzten zwei Jahre waren mühsam aber ich sehe uns jetzt vor den nächsten Schritten in eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialunion. Ich sage voraus, dass wir den Euro und die Union stabiler, noch demokratischer und gerechter machen. Europa geht weiter. Das wird uns auch helfen nach außen einheitlicher und an unseren Werten orientiert Europäische Politik zu vertreten.


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