EU-Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms spricht im Interview über die Pflichten der Europäischen Union und die aktuelle Lage in der Ukraine.
Von Peter Riesbeck
Rebecca Harms, 57, ist seit 2010 Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament. Als Anti-Atomkraft-Gegnerin besuchte sie noch zu Sowjetzeiten nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 die Ukraine und unterhält seit langen Jahren Kontakte in das Land.
Donnerstag bereist sie wieder die Ukraine. Mit FR-Europakorrespondent Peter Riesbeck führte sie ein Gespräch über die Stimmung vor Ort, Putins Eskalationsspiele und falsche Akzente der westlichen Sanktionspolitik.
Frau Harms, Sie sind in Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes im Osten der Ukraine, wie lässt sich die Stimmung beschreiben?
Sehr angespannt. Die prorussischen Milizionäre haben ja auch versucht, Charkiw einzunehmen. Das ist aber misslungen. Aber die Spannungen in der Stadt haben nicht nachgelassen. Die Menschen, die an der russischen Grenze wohnen, berichten davon, dass sie nachts pausenlos Panzer rollen hören. Es herrscht hier ein Gefühl der Unruhe.
Der Absturz des Zivilflugzeugs MH17 droht zu einer weiteren Eskalation der Lage zu führen. Wie lässt sich eine unabhängige Ermittlung gewährleisten?
Derzeit ist das schwierig, der Absturzort wird von den Separatisten kontrolliert. Nicht einmal der ukrainische Katastrophenschutz hier aus Charkiw kommt an den Ort heran. Sämtliche Versuche mit den Kollegen im von prorussischen Kräften kontrollierten Donezk Kontakt aufzunehmen werden systematisch blockiert. Beweismittel werden systematisch unterschlagen.
Neben der technischen Aufklärung der Hintergründe gibt es ja auch einen menschlichen Aspekt. Die Opfer müssen geborgen werden, die Angehörigen wollen zur Absturzstelle. Ließe sich wenigstens in diesen humanitären Fragen eine Vereinbarung finden?
Das ist schwierig. Am Wochenende warteten die Angehörigen der Opfer noch in Kiew. Es ist hier in Charkiw eigentlich alles vorbereitet, aber es gibt kein Durchkommen zum Absturzort.
Wie lässt sich vermeiden, dass die Lage eskaliert?
Die Menschen hier haben in den vergangenen Wochen massive Aufrüstung auf der prorussischen Seite gesehen, auch mit schwerem Kriegsgerät. Die regulären ukrainischen Kräfte können die Grenze zu Russland nicht kontrollieren, auf einen ukrainischen Soldaten kommen fünf russische. Es gibt daher einen interessanten strategischen Vorschlag, die Grenze zu Russland international zu kontrollieren. Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine Kontrolle ja zugesagt, aber nichts dafür unternommen.
Der EU-Gipfel hat gerade eine Ausweitung der Sanktionen beschlossen, erstmals soll der Bann auch Firmen treffen, die die prorussischen Kräfte unterstützen. Eine entsprechende Liste soll bis Ende des Monats vorliegen. Die US-Regierung hat sie bereits vorgelegt. Reicht das aus?
Die Europäische Union und die USA müssen mit ihren Sanktionen auch ernst machen. Als die EU im März nach der Besetzung der Krim ihren Drei-Stufen-Mechanismus verkündete, war das ja ausdrücklich als Gegenmaßnahme zu einer militärischen Eskalation gedacht. Wenn Europa verhindern will, dass sich in der Ukraine ein Gefühl einstellt, dass man auf sich alleingestellt ist und die Lage nicht militärisch eskalieren soll, muss sie breite Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen. Die EU kann über entsprechende Sanktionen nicht nur reden, sie muss sie auch Angriff nehmen.