Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#dieselgate    03 | 03 | 2016

Hintergrund zum Dieselskandal

Ein Briefing zur Geschichte der Euro 5/6-Regulierung, zum neuen RDE-Testverfahren und zum Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments.


Rebecca Harms, 11.02.2016

1. Euro5/6 Regulierung - Festlegung von Stickoxidgrenzwerten

Dem aktuellen Dieselskandal liegt eine europäische Regulierung von 2007 zu Grunde. Die sogenannte Euro5/6 Regulierung[1] legt unter anderem Grenzwerte für den Stickoxidausstoß von PKW fest[2]. Seit  September 2015 müssen neu zugelassene Dieselfahrzeuge einen Stickoxidgrenzwert von 80 mg/km erreichen (Euro 6 Norm). Laut Gesetzgebung muss der Grenzwert unter normalen Fahrbedingungen eingehalten werden – und nicht nur in Labortests zur Typengenehmigung. Der Gesetzestext dazu besagt:

Artikel 5.1 der VERORDNUNG (EG) Nr. 715/2007:

Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.

Doch wurden die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, die Einhaltung der Grenzwerte außerhalb des Testzyklus zu überprüfen. Die realen NOx-Emissionen von modernen Diesel-PKW sind um ein Vielfaches höher als der gesetzliche Grenzwert vorgibt.[3] Bereits 2007 wurde daher beschlossen, dass es zu einer Überarbeitung des Testverfahrens kommen würde und Tests unter realistischen Fahrbedingungen eingeführt werden sollten.

2. Neue Testverfahren unter realen Fahrbedingungen
(RDE-Tests, Real Driving Emissions Tests)

Ein technischer Ausschuss (Technical Committee – Motor Vehicles (TCMV)) hat am 19. Mai 2015 ein neues Messverfahren beschlossen. Der RDE-Test für Diesel ist realistischer als ein Labortest, weil er mit mobiler Ausrüstung tatsächlich auf der Straße angewandt wird. 2016 startet der Testbetrieb mit so genannten PEMS (portable emissions measurement system).

Durch die RDE-Tests soll einerseits Betrug wie bei VW ausgeschlossen werden. Andererseits soll er zukünftig dafür sorgen, dass die bei vielen Herstellern zu beobachtende Kluft zwischen realen Stickoxid-Emissionen auf der Straße und Messwerten aus dem Labor verringert wird. Gestritten wurde in den letzten Wochen und Monaten darüber, ob und wie viel Zeit man den Automobilherstellern geben muss die Grenzwerte für Stickoxid zu erreichen, wenn genauer gemessen wird.

So hatten in dem technischen Ausschuss TCMV EU-Kommission und Mitgliedsstaaten im Oktober2015 beschlossen, den Fahrzeugherstellern beim Übergang zum realistischeren Testverfahren  großzügige Grenzwertüberschreitungen durch die Festlegung sogenannter Konformitätsfaktoren[4] zu gestatten. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments lehnte diese Entscheidung ab. Jeder Konformitätsfaktor, der über die Unsicherheit der Testergebnisse hinausgeht und so Abweichungen zwischen Testergebnis und Grenzwert zulässt, bedeutet eine Veränderung der bestehenden Gesetzeslage. Der Rechtsausschuss des Parlaments hat kurz vor der Plenarabstimmung über die Konformitätsfaktoren erklärt, dass es sich bei der Entscheidung im technischen Ausschuss um eine Überschreitung des Mandats für das Komitologie-Verfahren handelt. Das Parlament wurde als Gesetzgeber übergangen und bestehende Gesetzgebung ausgehebelt. Das Plenum jedoch sprach sich am 3. Februar 2016 mit knapper Mehrheit (+ 317/- 323/0 61) für die Entscheidung aus dem Komitologie-Verfahren aus.

Nach der jetzigen Entscheidung wird man zwischen 2016, wenn begonnen wird, Messungen mit im RDE-Verfahren durchzuführen, und 2019, wenn die Tests flächendeckend eingesetzt werden, keinerlei Maßnahmen ergreifen, obwohl man feststellen wird, dass die aktuellen Emissionen die geltenden Grenzwerte im Durchschnitt um ein Vielfaches überschreiten.

3. Der Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments
(Committee of Inquiry into Emission Measurements in the Automotive Sector - EMIS)

Am 17. Dezember hatte das Europäische Parlament die Einsetzung und das Mandat eines Untersuchungsausschusses zu Emissionsmessungen in der Automobilindustrie beschlossen. Dem Ausschuss gehören 45 Abgeordnete an, davon drei  von der Grünen/EFA Fraktion: Rebecca Harms, Bas Eickhout (Niederlande) und Karima Delli (Frankreich). Deutsche Mitglieder sind neben Rebecca Harms Ismail Ertug (SPD) und Hans-Olaf Henkel (parteilos).[5]

Der Untersuchungsausschuss wird im Februar zum ersten Mal zusammentreten und ein Jahr tätig sein. Das Mandat kann bei Bedarf zwei Mal um je drei Monate verlängert werden. Nach 6 Monaten soll ein Zwischenbericht und am Ende ein Abschlussbericht über die Untersuchungen angefertigt werden, der neben den gewonnenen Erkenntnissen auch Empfehlungen für legislative Maßnahmen enthalten soll.

Das Mandat[6]

Der Abgasskandal um Volkswagen und zahlreiche Berichte über Auffälligkeiten bei mehreren Herstellern verdeutlichen, dass die EU Vorgaben zu Emissionsgrenzwerten bei Fahrzeugen mangelhaft umgesetzt und kontrolliert werden.

Das Mandat des Ausschusses richtet sich nicht gegen einzelne Hersteller. Es sieht vor, die Rolle der EU-Kommission und der Aufsichtsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten zu überprüfen. Es soll unter anderem geklärt werden, ob bereits vor Bekanntwerden der Abgasaffäre Informationen zu manipulierten Tests vorlagen. Presseberichten zufolge war der damals zuständige Kommissar Tajani bereits 2012 über betrügerische Praktiken informiert worden.[7] Das Mandat des Untersuchungsausschusses sieht auch vor, Lücken und Schwachstellen in den bestehenden Regelungen und bei deren Implementierung aufzuspüren. Der Ausschuss wird Nachlässigkeiten von Aufsichts- und Zulassungsbehörden in den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EU-Vorgaben auf den Grund gehen und der Frage nachgehen ob, bzw. wann und wie die EU-Kommission hätte aktiv werden müssen, um die Umsetzung europäischer Gesetzgebung zu gewährleisten. Zudem wird hinterfragt, warum es die Mitgliedsstaaten unterlassen haben angemessene Strafzahlungen einzuführen.

Konkrete Fragen, denen der Untersuchungsausschuss aus Grüner Sicht auf den Grund gehen soll, sind u.a.:

- Wie konnte VW über mehrere Jahre Abgastests manipulieren, ohne dass Aufsichtsbehörden oder EU-Kommission einschritten?

- Warum hat die EU Kommission nicht mehr Druck auf die Mitgliedsstaaten ausgeübt und dafür gesorgt, dass die Hersteller die Gründe für die deutlichen Abweichungen zwischen Abgasmessungen auf der Straße und auf dem Prüfstand erklären?

- An welchen Stellen wurde auf Hinweise auf mögliche Manipulationen nicht angemessen reagiert?

- Wie haben die Umweltbehörden der USA (EPA, CARB) den Betrug festgestellt? Was können wir vom amerikanische Prüf-, Zulassungs- und Kontrollsystem lernen?

- Wie kann die Anwendung verbotener Software in Zukunft verhindert werden?

- Wie müssen Testverfahren und Typenzulassungsverfahren reformiert werden, um sicherzustellen, dass Grenzwerte zum Umwelt- und Gesundheitsschutz nicht nur auf dem Papier erreicht werden?

Dafür benötigen wir die Anhörung von Wissenschaftlern, Vertretern der US-Behörden und NGOs, die sich mit Emissionsmessungen befassen. Auch Vertreter von EU-Kommission und nationalen Aufsichtsbehörden werden sich in dem Zusammenhang erklären müssen.

4. Reform des europäischen Zulassungssystems

Die EU-Kommission hat Ende Januar einen Vorschlag zur Verbesserung des Typenzulassungssystems für Kraftfahrzeuge vorgelegt. Dieser beinhaltet mehr Möglichkeiten zur Kontrolle für die Kommission. So soll sie prüfen ob Fahrzeuge oder Fahrzeugteile, die bereits auf dem Markt sind, der Typenzulassung und der geltenden Gesetzgebung entsprechen. Bei Problemen erhält sie außerdem die Möglichkeit Typenzulassungen in Frage zu stellen.

Bislang ist eine nationale Behörde für die Zulassung eines Automodells in der gesamten EU zuständig. Nur diese kann auch im Falle von Problemen die Zulassung zurückziehen. In Zukunft sollen Kommission und Behörden anderer Mitgliedsstaaten hier mehr Einfluss erhalten.

Außerdem schlägt die Kommission ein neues Gebührensystem vor. Dieses kann den bestehenden Interessenskonflikt aufheben, da derzeitig die Hersteller die Testgesellschaften direkt bezahlen. Dadurch entsteht ein direktes Abhängigkeitsverhältnis, das die Unabhängigkeit der Tests in Frage stellt. In Zukunft sollen Gebühren von den Herstellern an die Mitgliedsstaaten in eine Art Fonds eingezahlt werden. Diese Mittel sollen die Tests sowie die Marktüberwachung finanzieren.

Fraglich ist allerdings, ob die Regierungen der Mitgliedsstaaten diesen Vorschlag unterstützen werden. Bislang haben diese sich immer gegen eine strengere Regulierung gewehrt.

Alle Informationen zum Ausschuss finden Sie hier: www.de.diesel-gate.info. In unserer Roadmap für den Ausschuss finden Sie unsere detaillierten Forderungen für die Arbeit.   


[1] VERORDNUNG (EG) Nr. 715/2007 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge

[2] Der Euro 5 Standard legte für die Zulassung neuer Fahrzeugmodelle ab September 2009 einen Grenzwert von 180 mg Stickoxid/km fest. Dieser Wert galt ab 2011 für alle neu zugelassenen Fahrzeuge. Der Euro 6 Standard legte für die Zulassung neuer Fahrzeug Modelle ab September 2014 einen Grenzwert von 80mg Stickoxid/km fest. Seit September 2015 gilt dieser Wert für alle neu zugelassenen Fahrzeuge.

[3] Der International Council on Clean Transportation (ICCT) hat 2014 die NOx-Emissionen von 15 modernen Diesel-Pkw gemessen und festgestellt, dass die realen Emissionen im Schnitt sieben Mal so hoch sind wie der gesetzliche Grenzwert. Beim CO2 liegen die Testergebnisse nach Angaben des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland (VCD) im Schnitt um 40 Prozent unter den realen Emissionen.

[4] Die Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten haben sich im Komitologie-Verfahren auf einen Konformitätsfaktor von 2,1 für neue Fahrzeugmodelle ab 2017 und für die Zulassung von Neuwagen ab 2019 geeinigt. Ab 2020 bzw. 2021 soll ein Faktor von 1,5 gelten. Damit können die eigentlich in der Gesetzgebung festgelegten Grenzwerte bis 2020 um mehr als 100 Prozent  überschritten werden. Danach noch immer um 50 Prozent.

[5] Liste der EMIS-Mitglieder und Link zur offiziellen EP Homepage 

[6] Das Mandat des Untersuchungsausschuss

[7] "EU-Kommission seit 2012 über illegale Software-Manipulationen informiert" , Wirtschaftswoche, 25.11.2015 


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