©Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.08.2010, Nr. 33 / Seite 5 |
Dreißig Jahre und kein Ende: Im Wendland, rund um das Lager Gorleben, bereiten die Atomkraftgegner einen heißen Herbst vor
Von Oliver Hoischen
Dickfeitzen. Es ist eine alte Geschichte, die Rebecca Harms zu erzählen hat. Mehr als dreißig Jahre ist sie jetzt alt, und doch bleibt sie immer neu: die von Gorleben und dem Atommüll. Und dem Protest dagegen. Der kommt und geht, wie die Wellen am Elbestrand. "Im Moment haben wir gute Chancen, Gorleben zu erschüttern", sagt Rebecca Harms.
Die Grünen-Politikerin sitzt in ihrer Küche in Dickfeitzen. Schon lange wohnt sie in diesem Nest, in einem ehemaligen Bauernhaus mitten im Wendland, ganz typisch. Ihr Garten draußen ist ein Idyll mit Apfelbaum, Bohnenbeeten und Hortensien, über die Regentropfen kullern. Na klar, in den siebziger Jahren hat sie eine Ausbildung als Landschaftsgärtnerin gemacht. Ihr Chef damals, der sei politisch überhaupt nicht links gewesen, erzählt Rebecca Harms, anders als sie, doch als Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) verkündete, dass der Salzstock im nahen Gorleben zum nuklearen Entsorgungszentrum werden solle, da hieß sie dieser Gärtnermeister den Rucksack packen und fuhr sie im Kübelwagen in den Landkreis Lüchow-Dannenberg, damit sie dort eine Bürgerinitiative organisiere und eine Demonstration. "Die wurde dann ziemlich groß." Rebecca Harms ist eine der Gründerinnen der Anti-Atomkraft-Bewegung - und immer noch da. Obwohl sie inzwischen die Grünen-Fraktion im EU-Parlament führt, zusammen mit Daniel Cohn-Bendit.
Die Nacht war unruhig gewesen: Bevor der Regen kam, donnerten Mähdrescher mit flackernden Lichtern über die schmalen Straßen des Wendlands zur Ernte, vorbei an all den "X" an Häusern und Bäumen, die an den "Tag X" des nächsten Castor-Transports erinnern sollen und längst zum Inventar der Landschaft gehören. Es ist eine dünn besiedelte Gegend entlang der Elbe, hinter der einst die DDR begann - weshalb sich die Gegner der Kernenergie nun zuraunen, Albrecht habe sich verspekuliert: Er habe darauf gesetzt, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) den Standort schon verhindern werde aus Angst vor den eines Tages möglicherweise anrollenden sowjetischen Truppen. Aber das geschah nicht.
Sondern Folgendes: Albrecht zog 1979 die Pläne für den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage zwar zurück - wegen der vielen Proteste sei die nicht durchsetzbar. Das änderte aber nichts daran, dass der Salzstock bei Gorleben weiter danach untersucht wurde, ob er für ein Endlager tauglich sei. Wo sollen sie denn hin, die hochradioaktiven Abfälle aus den heute noch siebzehn deutschen Atomkraftwerken? "Irgendwer in Deutschland kriegt es vor die Tür", sagt auch Rebecca Harms - sie hat gar nichts dagegen, nur ist sie eben der Meinung, die Suche nach einem Endlager müsse noch einmal ergebnisoffen neu beginnen.
Die Kernkraftgegner recken sich die Glieder wie an einem neuen Morgen. Zwar hat Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) angekündigt, die Erkundung des Salzstocks in Gorleben wiederaufzunehmen - sie war nach dem rot-grünen Atomkonsens unterbrochen worden. Aber hat er mit den jetzt anstehenden Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke nicht schon genug Ärger am Bein? So denken viele im Wendland. Und läuft in Berlin nicht ein Untersuchungsausschuss, bei dem herausgefunden werden soll, in wiefern die Entscheidung für Gorleben keine wissenschaftliche, sondern eine politische war?
Vor allem verweisen sie aber auf die Asse, eine Schachtanlage, die als eine Art Prototyp für Gorleben galt. 125 787 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen wurden da eingelagert - doch Grundwasser dringt ein, es besteht Einsturzgefahr. Im Untersuchungsausschuss des Niedersächsischen Landtags haben sie darüber gestritten wie die Kesselflicker. Ob der Fall nicht zeige, dass die Elite der deutschen Atomforschung versagt habe, fragen die Atomkraftgegner nun, dass man den Wissenschaftlern nicht mehr trauen könne. Und es stimmt ja: Bis heute gibt es nirgendwo auf der Welt ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll, in Russland nicht und in Amerika auch nicht. Nur in Finnland will man einen Ort dafür gefunden haben.
Kein Wunder, dass es im Wendland Atomkraftgegner jetzt schon in der dritten Generation gibt: Die Entscheidung für das Endlager hängt seit Jahren in der Luft. Und: Es wohnen viele literate Leute hier, aus Hamburg und Berlin, Post-68er, die den Protest unterstützen. Die Zukunft heißt dort inzwischen Laura und Johann. Die beiden sind Anfang zwanzig und gerade aus der Nachbarschaft zu Rebecca Harms herübergekommen, freundliche Bauerskinder mit freundlichen Gesichtern, Mitglieder der "Bäuerlichen Notgemeinschaft", der Avantgarde des Protests. Während die Espressomaschine laut gurgelt, erzählen sie von den Demos ihrer Kindheit, vom Unterrichtsausfall in der Schule, von den Telefonketten, mit denen schon ihre Eltern die Traktoren in Bewegung setzten.
Nun geht es wieder los. "Seit der Bundestagswahl gibt es eine neue Protestwelle", sagt Laura. Im vergangenen Herbst war sie zur großen Demo in Berlin, auf der Fahrt dorthin hätten sie gesehen, dass es erstaunliche Erfolge gebe: Auf den Feldern stehen Windparks, auf den Dächern Sonnenkollektoren. Im April gab es dann eine Menschenkette zwischen den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel, 120 Kilometer lang - keiner hatte mit so vielen Menschen gerechnet. Und in vier Wochen ist schon wieder ein großer Marsch auf Berlin zur Untermalung des neuen Energiekonzepts der schwarz-gelben Bundesregierung. Vieles wird dann sichtbar werden: zum Beispiel, dass sich die Grünen und die unabhängigen Gruppen nach Jahren der Streitigkeiten längst wieder einander angenähert haben. Und dass sich inzwischen auch die SPD entschieden hat, gegen die Kernenergie zu sein.
Und das Wendland? Das erwartet für November den nächsten Castor-Transport. Johann will es zwar nicht zugeben, aber er scheint doch sehr zu überlegen, ob er sich dieses Mal irgendwo anketten wird, an einen dieser gegossenen Betonblöcke vielleicht - obwohl das nicht nur sehr anstrengend, sondern vor allem gefährlich ist. Aber Hauptsache, im Radio sagen sie wieder, dass der Castor nicht vorankommt. Immer schon gehört die Frage dazu, welche Formen des Widerstands erlaubt sind. "Es ist wie ein kleines Wettrüsten", sagt Johann. Seine Eltern hätten sich noch einfach auf die Straße gesetzt und sich wegtragen lassen. Heute reiche das nicht mehr, um Aufmerksamkeit zu erzielen.
Von Gedelitz ist es nur ein Wald bis Gorleben. Hier üben sie schon: wie man die Straße blockiert, in ein Megafon spricht, eine Polizeikette auflöst - gewaltfrei Widerstand leistet. Ein paar Dutzend Zelte stehen auf einer Wiese im nassen Gras, die Autos davor führen Nummern aus ganz Deutschland. Es gibt Seminare unter einer bunten Zirkuskuppel, auch über die "Atomkraft aus physikalischer Sicht". In den Pausen springen die Teilnehmer über die Heringe und spielen Frisbee, auch barfuß, auf der Frisbeescheibe prangt ein Logo in Gelb-Rot: "Atomkraft? Nein danke!"
"Auf einmal blubbert's," sagt ein Sprecher, er ist von "X-tausendmal quer", jener Organisation, die die Castor-Blockade mitorganisiert. Seit Jahresbeginn schon bereiten sie sich auf den heißen Herbst vor, zusammen mit den Leuten von "ausgestrahlt". Einige fahren durchs Land, ihr Programm heißt "Aktionstraining ziviler Ungehorsam". Der Mann sitzt auf einem Baumstamm, dreht an seiner Kaffeetasse, empfiehlt als Lektüre die "Blockadefibel": Sie hat 64 Seiten und liegt im Orga-Zelt nebenan aus. Über die Grünen möchte er nicht schlecht sprechen, nur so viel: "Jürgen Trittin hätte damals konsequenter handeln müssen." Mehr als zwanzig Jahre für den Ausstieg, so wie es im Atomkonsens vereinbart wurde - das ist dann doch ein bisschen lang.
Bunt ist der Protest, von allen Schichten der Gesellschaft wird er getragen - darauf waren sie immer stolz im Wendland. Auch ein richtiger Graf gehört dazu, Andreas Graf von Bernstorff. Er sitzt auf der Terrasse seines Schlosses in Gartow, seine Frau serviert eine köstliche Suppe mit Bohnen aus dem eigenen Garten. Bernstorff war früher einmal Mitglied der CDU und wurde berühmt: weil er sich weigerte, seinen Wald über dem Salzstock zu verkaufen. Und später eine Treibjagd veranstaltete, um einen Castor-Transport zu stören. Und manch einen Demo-Redner im Schloss campieren ließ.
Beim Kaffee holt der Graf Pläne hervor, die zeigen, dass der Salzstock nun offenbar um seine Waldgrundstücke herum erkundet werden soll - ob das wohl geologisch vertretbar sei, fragt er, oder nur rechtlich. Es geht ihm um Tradition und Verantwortung und um die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass Atommüll erst in einer Million Jahren nicht mehr strahlt. Dass dieser Müll genauso lang im Salzstock von Gorleben, nur wenige Kilometer von hier, sicher lagern muss. Umgerechnet etwa dreißigtausend Generationen. Das sei so unvorstellbar lang, dass es nur einen Schluss zulasse. Auch deshalb ist der Graf optimistisch: "Ich glaube nach wie vor ziemlich fest daran, dass das mit Gorleben nix wird." Nun will er aber erst einmal prüfen lassen, ob auf einem Teil seines Besitzes, ganz nah am Lager, nicht ein paar Windkrafträder aufgestellt werden können. Zum Geldverdienen. Und als Zeichen.