Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#eurokrise    23 | 07 | 2012

Europa eine neue Richtung geben

erschienen auf: http://www.euractiv.de/europa-2020-und-reformen/artikel/rebecca-harms-europa-eine-neue-richtung-geben-006559

Man könnte meinen, die Europäische Union sei an Krisen gewöhnt und damit auch ein Stück dagegen gewappnet.  Als in Europa die Gemüter das letzte Mal in Wallung gerieten, ging es um polnische Klempner, die westeuropäischen Handwerkern ungeliebte Konkurrenz machen könnten, es ging ums Erweitern oder Vertiefen und um die fatigue de l'Europe, die Ermüdung an zu viel Europa.

Das war im Frühling 2005, kurz nach der großen, im weiten Westen unverdauten Osterweiterung, als Frankreich und die Niederlande über die europäische Verfassung abstimmen sollten, aus der dann – mit viel Mühe - der Vertrag von Lissabon wurde. Die große Europaeuphorie schien verflogen, der deutsch-französische Motor stotterte, es ging nicht mehr so recht voran.

Und hinter der Drechselei am Lissabon-Vertrag war die tiefere Krise eigentlich schon zu greifen.

Das neue Misstrauen

Seit der Entdeckung der Eurokrise hat die europäische Idee mit mehr und mehr Gegenwind zu kämpfen. Dabei brachen zunächst einige Volkswirtschaften am Rande der EU zusammen. Von der Öffentlichkeit in Westeuropa weitgehend unbeachtet, stürzte das Platzen der lettischen Kreditblase vor drei Jahren große Teile der lettischen Bevölkerung in Armut. Ungarn kämpft bis heute mit den wirtschaftlichen und politischen Folgen der vielen Privatschulden in Fremdwährungen. Die europäischen Institutionen wurden erfasst, als die damals neugewählte griechische Regierung unter Georgios Papandreou im Herbst 2009 einen Kassensturz des Staatshaushalts anordnete. Es zeigte sich, dass die griechische Statistikbehörde über Jahre falsche Daten an die europäische Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg übermittelt hatte.

Die Rolle der Rating-Agenturen

Die weiteren Abgründe, die sich in der Folge auftaten, sind mehr oder weniger bekannt. Das Misstrauen zwischen griechischen Bürgern und ihrem Staat sickerte in die europäische Politik. Großinvestoren und Rating-Agenturen begannen, die Mitgliedsstaaten der EU genauer unter die Lupe zu nehmen.

Dabei hatten sie zur griechischen Misswirtschaft zuvor nicht nur geschwiegen, sondern sie forciert und ausgenutzt. Ihr Augenmerk fiel auf die Spekulationsblasen in Irland und Spanien und die lahmenden Volkswirtschaften Portugals und Italiens, wo blauäugige Kreditvergabe zu einer Überschuldung im Privatsektor geführt hatte.

Die Regierungen mussten einspringen und mit dem Geld ihrer Steuerzahler den Banken unter die Arme greifen. Seitdem misst sich das Vertrauen in Ehrlichkeit, Steuerdisziplin und Demokratieverständnis verschiedener europäischer Landsleute im Unterschied der Risikoaufschläge ihrer Staatsanleihen zu denen deutscher Staatsanleihen.

Die neue innereuropäische Grenze scheint dabei zwischen dem haushaltsdisziplinierten Norden und dem verschuldeten Süden zu verlaufen – und nicht wie einst befürchtet entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West.

Politik in der Endlosschleife

Aber wird der Gegenwind die europäische Einigung zurückdrängen? Tatsächlich dreht sich die europäische Politik seit Krisenbeginn im Kreis. Wir scheinen in einer Endlosschleife fest zu hängen. Entgegen aller Einsicht, dass die Gemeinschaft mit dem Euro nur erfolgreich bestehen kann, wenn wir unsere Wirtschafts- und Währungspolitikpolitik vergemeinschaften.

Weil dazu der politische Mut fehlt, werden seit Beginn der Griechenlandkrise nur Maßnahmen beschlossen, die zwar kurzfristig für Linderung sorgen, aber nicht die Ursachen der Krise bekämpfen. Zu wenig, zu spät, zu einseitig! So ist die Kritik am europäischen Vorgehen gegen die Krise oft und zu Recht formuliert worden.

Die europäischen Regierungen zögern aus verschiedenen Gründen, bis die Umsetzung des jeweils aktuellen Vorschlags nur noch kurzfristige Besserung verspricht. Da beschließt ein europäischer Krisengipfel die Maßnahme. kurz darauf stufen eine oder mehrere Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit eines oder mehrerer Schuldenländer erneut herab.

Das letzte Wort noch nicht gesprochen

Im krassesten Fall waren sich Kommentatoren schon zum Ende des Gipfels einig, dass die Beschlüsse ihre Wirkung verfehlen würden. Der Markt gibt ihnen Recht – und es beginnt von vorne.

Die Beispiele hierfür sind zahlreich: Angela Merkels Verzögerungstaktik der ersten Griechenlandhilfen während des Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen, der griechische Schuldenschnitt, die Ausstattung und Kompetenzen der EFSF, schließlich der Fiskalpakt und die aktuelle Erhöhung der Garantiesumme des ESM, in der das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen ist.

Drei wichtige Einsichten


Damit wir der Endlosschleife entkommen können, müssen die Verantwortlichen zunächst zugeben, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend und teilweise falsch gewesen sind. Das wiederholte Eingreifen der Europäischen Zentralbank, um die Risikoaufschläge in einigen Ländern zu drücken, macht deutlich, dass wir immer noch tief in der Krise stecken. Mit sehr viel Geld wurden Anleihen auf dem Sekundärmarkt gekauft oder europäische Banken für den Moment stabil gespritzt. Die Zeit, die die EZB damit für die europäische Politik gekauft hat, wurde allein mit dem  Fiskalpakt verspielt.

Die nächste Einsicht muss sein, dass allein dieser Fiskalpakt und die einseitigen Sparprogramme der Regierungen nicht aus der Krise  helfen. Sie helfen nicht den Bürgern, deren Leben durcheinander gebracht werden, um die sprichwörtlichen Märkte in Ordnung zu bringen.

Der Teufelskreis mit Sparprogrammen

Aber selbst den Märkten ist mit den Sparprogrammen nicht geholfen. Je weniger die Regierungen in den Schuldenländern ausgeben, desto schwächer wird die Binnennachfrage, desto weniger wird investiert, desto weniger Menschen finden Arbeit, desto höher werden die staatlichen Sozialausgaben und desto geringer werden die Steuereinnahmen. So wird es weniger wahrscheinlich, dass die Schuldenländer ihre Schulden bedienen können, und die Staatsanleihen dieser Länder werden immer riskantere Anleihen.

Ob es einen weiteren gnädigen Schuldenschnitt wie im Fall Griechenlands geben wird, ist unwahrscheinlich. Gleichzeitig werden auch Investitionen in die Privatwirtschaft riskanter. Noch nicht einmal den Regierungen ist damit geholfen, das letzte aus den Sozialschwachen in ihren Ländern herauszuquetschen, um ihre Schulden kurzfristig bedienen zu können.

Politikverdruss nimmt erschreckende Züge an

Der Politikverdruss ist in Europa kaum noch zu übersehen und nimmt erschreckende Züge an. Von Finnland, wo Rechtspopulisten ihren Stimmenanteil in den letzten Parlamentswahlen vervierfachen konnten, über Frankreich, wo die Sympathien für den Front National ungeahnte Ausmaße annehmen, und Griechenland, wo die etablierten Parteien ein Schatten ihrer selbst sind, sodass es zuletzt mit den beiden nicht mal zu einer Koalition gereicht hat.

Da ist es beinahe ein Glücksfall, dass der Aufstieg der Piratenpartei in Deutschland nicht einem europafeindlichen Programm geschuldet ist, sondern keinem.

Ein Zeichen der Einsicht ist, dass seit geraumer Zeit ein Vorschlag der Europäischen Kommission vorliegt, um gemeinsam gegen Rezession und Arbeitslosigkeit vorzugehen. Die Europäische Union stand lange nicht nur für die Aussicht auf Freiheit und Demokratie, sondern auch für das Versprechen auf besseres Leben. Dieses Versprechen muss endlich von allen ernst genommen werden.

Unterstützung für François Hollande

Deshalb unterstütze ich, dass der neue französische Präsident François Hollande die Fehler der einseitigen Sparprogramme korrigieren will. Wir Grüne müssen die Europäische Kommission und den Rat in der Wachstumsauseinandersetzung in Richtung Nachhaltigkeit zwingen.

Verbal spielen die Ideen des Green New Deal in Brüssel eine große Rolle. Aber wenn Entscheidungen getroffen werden, dann folgen sie überwiegend der alten Wachstumslogik.

Nach dem Machtwechsel in Frankreich wird hoffentlich auch das demokratische Defizit des Fiskalpakts angegangen. Aber wenn die europäische Krisenpolitik sich derzeit im Kreis dreht, hat das auch und immer noch mit den Erfahrungen der Referenden in den Niederlanden und Frankreich zu tun.

Von einem Vertrag zum nächsten geschummelt

Die europäischen Regierungen versuchen, das Mögliche aus den bestehenden Verträgen herauszukitzeln, ohne sie ihren Wählern zur Abstimmung unterbreiten zu müssen. Denn das müssten sie, sobald sie der EU mehr Kompetenzen zuschreiben. Aber anstatt eine ehrliche Debatte zu eröffnen, in der es darum geht, wie die Verträge erweitert werden müssen, schummeln sie sich von einem zwischenstaatlichen Vertrag zum nächsten.

So verkennen sie jedoch, dass der Kern der Krise ein Vertrauensproblem ist, zwischen den Bürgern in Europa und zwischen den Bürgern und ihren Regierungen. Das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, wird entscheidend für die weitere Entwicklung der Europäischen Union.


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