Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#ejz    22 | 05 | 2019

Rebecca Harms bilanziert ihre Zeit im Europaparlament

EJZ-Serie zur Europawahl: Die Grünen-Politikerin im Gespräch mit Redakteurin Christiane Beyer. FOTO: Ch. Beyer .
Rebecca Harms am heimischen Küchentisch in Dickfeitzen, an dem sie künftig wieder häufiger sitzen wird. Nach zehn Jahren im Landtag in Hannover und zuletzt 15 Jahren im Europa-Parlament kandidiert die 62-jährige bei dieser Europawahl nicht mehr.

EJZ: Rebecca Harms, Sie haben im vergangenen Jahr entschieden, nicht wieder für das EU-Parlament zu kandidieren. War es die richtige Entscheidung? Wie erleben Sie diese Wochen vor der Neuwahl?

Rebecca Harms: In den vergangenen Wochen war jeder Tag anders, das Ausräumen des Büros eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich habe Bücher und Manuskripte, Fotos von überall in der Welt angefasst und gemerkt, dass ich einen Teil meines Lebens sortiere. Das Loslassen habe ich mir einfacher vorgestellt. Aber die Entscheidung, nicht wieder zu kandidieren, bleibt richtig. Ich werde meine Wohnung über den Dächern in Brüssel vermissen, aber freue mich darauf, nicht mehr ein Jahr im Voraus verplant zu sein. Ich hatte auch manchmal Heimweh. Es ist schön, zurückzukehren.

Hinter der 62-jährigen Rebecca Harms liegt ein Vierteljahrhundert parlamentarischer Arbeit. Politik, außerparlamentarisch gegen Gorleben, macht sie viel länger. 1977 war sie Mitbegründerin der Bürgerinitiative Umweltschutz. Ab 1984 arbeitete sie für die damalige EU-Abgeordnete Undine von Blottnitz in Straßburg und Brüssel. 1994 kandidierte sie für den Niedersächsischen Landtag.

Dazu wurde ich freundlich gebeten von einigen Grünen aus dem Landkreis. Ich musste überlegen. Als meine Freunde Marianne Fritzen, Martin Mombaur und Undine von Blottnitz die Grünen 1980 mit gründeten, war ich nicht dagegen, aber glaubte, dass mit der BI, mit Aufklärung und zivilem Ungehorsam Gorleben schneller fallen würde als es bräuchte, eine Partei aufzubauen. Welch ein Irrtum. Ich wurde erst nach der Wahl in den Landtag Parteimitglied. 25 Jahre Arbeit in Parlamenten - das war nicht mein Lebensplan. Ich war die erste in meiner Familie mit Abitur, studierte nicht, wurde Gärtnerin. Im Rückblick muss ich sagen: Ich hatte Glück. Das Vertrauen, das andere in mich setzten, hat mir ein politisches Leben mit großen Möglichkeiten beschert.

Im Landtag in Hannover war Rebecca Harms ab 1998 Fraktionsvorsitzende, hatte aber 2003 das Gefühl von Enge und Stillstand. Sie wollte aufhören und etwas ganz anderes machen.
Das Ergebnis dieser Überlegungen war dann die Kandidatur 2004 für das EU-Parlament. Warum?

Der Fall des Eisernen Vorhangs, die nach Osten plötzlich offene Heimat, das hat meinen Blick auf die Welt verändert. Schon 1988 brachte mich die Einladung des sowjetischen Schriftstellerverbands nach Tschernobyl, Kiew und Moskau, ich hatte erste Kontakte zu Dissidenten und wurde neugierig auf Leute und Länder des Ostens. Ich entschied mich für Brüssel, weil 2004 die zentral- und osteuropäischen Staaten der EU beitraten. Ich ging nach Brüssel mit Erfahrungen der Wiedervereinigung und wollte den ersehnten Prozess der Ankunft der Osteuropäer unterstützen. Ich ahnte, dass es schwierig, aber nicht, wie schwierig es werden würde.
In Gorleben gestartet, in der Ukraine gelandet, wo Sie unlängst als Chefin die Wahlbeobachtergruppe des Europäischen Parlaments leiteten. Wo sind da die Gemeinsamkeiten?

Durch Gorleben und die Arbeit für Undine kam ich nach Tschernobyl. 1988 im Gespräch mit Schriftstellern des PEN-Clubs fing ich an, die Zerrüttung des sowjetischen Systems zu begreifen und dass Gorbatschow, Glasnost und Perestroika auch wegen der Lügen über Tschernobyl scheiterten. Damals wurde es mein Anliegen, die Demokratiebewegungen in Osteuropa zu stärken. Viele Menschen in Osteuropa danken mir die Arbeit der vergangenen Jahre mit Freundschaft. Ich verstehe nicht, dass ausgerechnet in Deutschland Zweifel daran aufkommen, dass Bürger der Ukraine oder anderer Staaten in Osteuropa dieselbe Sehnsucht haben wie die Leute, die vor 30 Jahren die Mauer überwanden. Noch weniger verstehe ich, dass es in Deutschland so viele gibt, die Verständnis für Putins Krieg gegen die Ukraine haben. Bei jeder Rückreise aus Osteuropa oder aus der Türkei verstehe ich besser, was wir in der EU erreicht haben, wie viel Sicherheit und Freiheit bedeuten. Und warum diese Europäische Union mit ihren Schwächen und Kompromissen der Ort der Sehnsucht für die Menschen in der Ukraine, Georgien oder der Türkei ist.
Russland verweigert Ihnen seit 2014 die Einreise. Auf der anderen Seite wurden Sie im Februar dieses Jahres von der litauischen Präsidentin Grybauskaite mit einem Orden ausgezeichnet. Wofür?

Litauen ist eines der vielen Länder, die ich beim Ausstieg aus der Atomenergie und bei der Energiewende unterstützt habe. Den Orden gab es als Dank für meine Arbeit zum Rückbau des Atomkraftwerks Ignalina. Die Stilllegung war Voraussetzung für den litauischen EU-Beitritt. Mir gelang im vorigen Winter, die von der Europäischen Kommission versprochenen Gelder zur Finanzierung des Rückbaus im Haushaltsplan des Parlamentes zu verankern. In den Augen der Litauer habe ich damit ein Wunder vollbracht. Es ist toll, zum Abschied aus dem Europaparlament einen Orden für die Hilfe beim Abriss eines AKWs zu bekommen. Von der Präsidentin, die ich als Kommissarin in Brüssel und später auf dem Maidan in Kiew besser kennenlernte.
Klimapolitik ist in der EU kein Selbstgänger?

Beim Klimaschutz war die EU lange vorn. Wir sind der erste Teil der Welt mit einer verbindlichen Klima-Gesetzgebung. Wir haben als erstes feste Ziele für Erneuerbare Energien gehabt, den Emissionshandel und CO2-Minderungsziele für Autos. Für das Pariser Abkommen muss die EU wieder ehrgeiziger werden. Mein Traum bleibt eine Europäische Klimaunion als das Zukunftsprojekt. Ein neuer EU-Vertrag für Klimaschutz kann klimafreundliche Technologien anschieben, Wettbewerbschancen unserer Industrien auf Zukunftsmärkten und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen.
Und was tun Sie für, respektive gegen Gorleben - Sie kennen diese Lüchow-Dannenberger Frage sicher.

Endlagerung ist nationale Aufgabe. Die EU hat zumindest versucht, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Planung und Finanzierung ihrer Atommüllentsorgung vorzulegen. Die Berichte zeigen, dass keiner der Atomstaaten der EU in absehbarer Zeit ein Endlager haben wird. Eines meiner aktuellen Projekte ist der World Nuclear Waste Report. Daran arbeiten Wissenschaftler aus acht Ländern, finanziert von Stiftungen, Grünen, dem BUND, Schweizer Initiativen und auch von unserer Bürgerinitiative und der Notgemeinschaft. Der Bericht soll das Wissen zum Stand der Endlagerung zusammenfassen und über Ländergrenzen hinweg vergleichbar machen. Ich wollte diesen Bericht für die kommende Generation, der wir die Endlagerfrage noch ungelöst übergeben werden.
Sie haben ihren Rückzug aus dem Parlament auch mit Differenzen in der Fraktion erklärt und damit, dass Sie mit ihrem Anliegen nicht durchdringen, gemeinsam die Entwicklungen und politischen Verschiebungen nach rechts in vielen Mitgliedsstaaten besser zu verstehen und ihnen erfolgreicher entgegen zu treten.

Mir reicht es nicht, sich angesichts der Erfolge von Nationalisten einfach zu den "besseren Europäern" zu erklären und mehr Europa zu fordern. Die EU ist gewachsen, zuletzt nach dem Wunder an der Elbe und der Oder. Sie ist noch heterogener und ungleichzeitiger geworden. 28 Staaten sitzen heute an einem großen Tisch und handeln ihre Interessen miteinander aus. Am Ende steht ein Konsens oder mindestens ein Kompromiss. Man kann Entscheidungen des Rates falsch finden, undemokratisch sind sie nicht. Es ist gefährlich, dass zu wenige Menschen verstehen, wie die EU als supranationaler Zusammenschluss funktioniert und dass es sich für Sicherheit und Wohlstand unsere Bürger auszahlt, dass die Staaten einen Teil ihrer Souveränität übertragen. Die Brexit-Abstimmung fand statt, als eine unglaublich miese Lügenkampagne auf Unkenntnis traf. Wer die EU als undemokratisch oder intransparent angreift, arbeitet Nationalisten in die Hände. Wer die EU will, muss den runden Tisch und den Kompromiss als die zivilisierende Leistung der EU anerkennen.
Was sind Ihre besten und schlimmsten Erinnerungen an Ihre Zeit als EU-Abgeordnete?

Ein großer Moment war die Unterzeichnung des Klimaabkommens in Paris. Sehr bewegt hat mich auch, als in parallel und live übertragenen Sitzungen der Parlamente in Kiew und Straßburg das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterschrieben wurde. Auch schlimme Momente verbinden mich mit der Ukraine. In der Nacht, als in Kiew 100 Menschen auf dem Maidan erschossen wurden, saß ich in Hamburg fest und kam erst zur Trauerfeier in Kiew an. Ich war im Osten in Artemiwsk, als nach dem Angriff auf den Ort Debalzewe viele Tote und schwer Verwundete dorthin gebracht wurden. In der Türkei habe ich nach seiner Wahl hoffnungsvolle Treffen mit Selahattin Demirtas erlebt. Heute bekomme ich weder für ihn noch für andere Freunde eine Besuchserlaubnis im Knast und sitze in Gerichtssälen, um unfaire Prozesse zu beobachten.
Und was kommt nun?

Ich will in Osteuropa weiter aktiv sein und lerne deshalb Ukrainisch. Es gab auch schon ein Stellenangebot. Aber ich hätte dafür bald nach Kiew ziehen müssen. Ich will mehr zuhause sein und weniger reisen. In den vergangenen Jahren war ich wirklich viel unterwegs, denn ich wollte eine europäische Abgeordnete sein. Das war oft großartig, aber auch anstrengend. Mir ist wichtig, künftig weniger Gesetze und mehr Bücher zu lesen. Ich finde schade, dass es preisgekrönte osteuropäische Schriftsteller schwer haben, in Deutschland in den Buchhandel zu kommen. Vielleicht gründe ich für sie einen Buchclub. Und an Gorleben führt nichts vorbei. In der Gartower Runde bin ich immer geblieben. Mir ist wichtig, das in 40 Jahren Erkämpfte nicht preiszugeben. Wir haben sehr viel, aber noch nicht alles erreicht. Ich bin dafür, Beteiligungsmöglichkeiten zu nutzen. Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus sind für mich kein Widerspruch. Wenn ich im BI-Vorstand säße - ganz klar, das will ich NICHT- würde ich die Partizipation im neuen Suchverfahren gemeinsam mit allen Mitgliedern abwägen und entscheiden. Ich befürchte, dass Türen geschlossen werden, bevor wir richtig dahinter geschaut haben. Falls das Verfahren in die falsche Richtung läuft, hindert uns nichts auszusteigen.

Das Interview erschien am 22. Mai 2019 in der Elbe-Jeetzel-Zeitung.


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