Am letzten Wochenende gab es zwei Veranstaltungen, die für kurze Zeit durch eine Schalte verbunden waren. In Berlin stand Deniz Yücel auf der Bühne, in Istanbul Ahmet Şık und Murat Sabuncu. Ich konnte weder in Berlin noch in Istanbul sein. Aber selbst aus der Ferne war ich mitgerissen von der Ungebrochenheit, dem Mut und Elan, mit dem die beiden in die Freiheit zurückkehren. Dazu gehört viel. Viel Liebe zur Freiheit. Und zur Türkei.
Für Ahmet und die türkischen Kollegen von der Zeitung Cumhuriyet gilt leider, dass die Freiheit auf Abruf ist. Die Prozesse gehen weiter. Die Anschuldigungen laufen auf langjährige Gefängnisstrafen hinaus, wenn die Gerichte sich der Anklagen anschließen. Der Preis für Kritik an der Politik Präsident Erdogans ist die Freiheit.
Ahmet Şık und Murat Sabuncu wurden in der Nacht des 9. Märzes in Silivri unter Auflagen aus der Haft entlassen. Monate hatte ich mit seiner Frau, den KollegInnen und FreundInnen darauf hingefiebert, zwischendurch schon nicht mehr daran geglaubt. Als der Richter seine Entscheidung verkündete, blieb uns allen der Jubel im Hals stecken. Ahmet Şık und Murat Sabuncu kamen frei. Akin Atalay musste in seine Zelle im Gefängnis von Silivri zurückkehren. Deniz Yücel schickte die aufmunternde Nachricht: heute Ahmet und Murat, dann alle anderen. Aber im Gerichtssaal flossen Tränen.
Immer wieder kommen mir seither die Worte des Richters in den Kopf. Er habe gehört, dass Sabuncu Sehnsucht nach dem Bosporus habe. Der dürfe jetzt wieder auf das Wasser schauen. Von Ahmets Mutter wollte der Richter gehört haben, dass sie den Druck und die Sorge nicht mehr aushalten könne. Sie dürfe sich entspannen. Trotz der unverschämten und provozierenden Rede des Anwaltes, der das nicht verdient hätte, käme Şık zusammen mit Sabuncu frei. Nur der Atalay müsse weiter in Haft bleiben. Der Kapitän gehe immer als letzter vom Schiff.
Wir Beobachter starrten auf unsere Dolmetscherin, auf den Richter und zurück und konnten nicht glauben, was sie übersetzte. Willkür. Etwas anderes fällt einem nach dem Verlauf des Cumhuriyet Prozesses zur türkischen Justiz nicht mehr ein.
Dieser Prozess gegen die Macher der ältesten türkischen Zeitung geht am 24. April weiter. Wir rechnen damit, dass Urteile gesprochen werden. Die Verhandlungen gegen Can Dündar und Ilhan Tanir, die beide im Exil sind, laufen getrennt davon. In diesen Verfahren sind die Anklagen am Tag der Freilassung von Şık und Sabuncu verschärft worden und umfassen nun den Vorwurf der Spionage gegen die Türkei. Darauf steht mindesten 15 Jahre Haft.
Das Cumhuriyet-Verfahren ist die Spitze eines Eisberges. Nur wenige Verhaftungen, Anklagen und Prozesse gegen Journalisten bekommen so viel Aufmerksamkeit, wie die gegen die Cumhuriyet Mitarbeiter, gegen Deniz Yücel oder andere mit nicht-türkischen Pässen.
International bekannt geworden sind noch die Prozesse gegen die Autoren Ahmet und Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak und Sahin Alpay. In den Fällen von Mehmet Altan und von Sahin Alpay hatte das türkische Verfassungsgericht entschieden, dass die lange Untersuchungshaft gegen türkisches Recht verstößt. In der Hauptsache sind Mehmet Altan und alle 5 Mitangeklagten inzwischen in erster Instanz zu mehrfach lebenslanger Isolationshaft verurteilt. Nur selten werden überhaupt die Namen aller Mitangeklagten Ahmet Altan, Nazlı Ilıcak , Fevzi Yazıcı, Şükrü Tuğrul Özşengül und Yakup Şimşek erwähnt. Das Strafmaß gegen alle ist gleich und eines der höchstmöglichen in der Türkei.
Sahin Alpay ist inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen, aber unter Hausarrest gestellt worden. Seine Familie und Anwälte hoffen, dass nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts bekräftigt hat, auch der Hausarrest aufgehoben wird. Das Straßburger Urteil und die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtes müssten für sehr viele Häftlinge in der Türkei die Freilassung bedeuten, wenn es mit rechten Dingen zuginge.
Zu dem im Westen gerade noch sichtbaren Teil des Eisberges gehören die Prozesse gegen die Politiker der HDP, zum Beispiel gegen Selahattin Demirtaş, dem charismatischen und klugen kurdischen Politiker, der die HDP stark gemacht hatte mit seinem Einsatz für Vernunft und politische Lösungen. Sein Erfolg war für Erdogan unerträglich und hat ihn ins Gefängnis gebracht. An der Aufhebung seiner Immunität war auch die oppositionelle CHP beteiligt. Der Besuchsantrag, den ich gestellt habe, ist noch nicht einmal beantwortet worden.
Nicht nur Parlamentsabgeordnete der HDP sondern auch die allermeisten der BürgermeisterInnen aus dem Südosten der Türkei sind im Gefängnis oder abgesetzt. Menschenrechtler wie der international renommierte Osman Kavala oder der Amnesty Chef Taner Kılıç bleiben Monat für Monat in Haft. Ab und zu hören wir von ihnen. Wenig bis gar nichts hören wir von den über 150 000 BeamtInnen, die festgenommen und angeklagt wurden, weil sie oder Angehörige oder Kollegen zur Hizmet Bewegung gezählt werden. Unternehmer, Akademiker, Lehrer, Wissenschaftler, Ärzte, Richter, Anwälte, Studenten Polizisten, Soldaten werden so wie die Journalisten bezichtigt, hinter dem Putsch zu stecken. Vermögen werden beschlagnahmt und in einem staatlichen Fond an Verwalter übergeben. Hunderte kleine Kinder sind mit ihren Müttern im Gefängnis. Wie unter Eis bleiben die allermeisten dieser Schicksale verborgen.
Nach Beginn der Operation Olivenzweig schnellten die Festnahmen noch einmal in die Höhe. Öffentliche Kritik, ein Plakat oder ein facebook post gegen den Angriff auf Afrin ist ein ausreichender Grund für eine Verhaftung. Am Morgen des Tages, an dem Ahmet Şık und Murat Sabuncu freigelassen wurden, fuhren wir von Istanbul mit dem Bus nach Silivri. Auf der Strecke gebe es oft Stau, hörten wir vom Busfahrer, wegen der vielen Gefangenentransporte und der Sicherheitsmaßnahmen. Gefangenentransporte gehörten heute zum normalen Alltag.
Die neue Normalität der Türkei ist unvereinbar mit der „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Es spricht für mich nichts dagegen, dass sich die Spitzen der EU im bulgarischen Warna mit dem türkischen Präsidenten getroffen haben. Wichtig ist, dass Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Tusk eine klare Sprache gefunden haben angesichts der politischen Verheerungen der letzten Jahre in der Türkei. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass der Putschversuch aufgeklärt werden muss. Und auch dessen Opfer verdienen Trauer und ihre Familien Beistand und Respekt. Aber das darf nicht bedeuten, dass wir die andauernde innere Eskalation in der Türkei übersehen. Das Ende des Ausnahmezustandes und die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit sind die Voraussetzungen um ernsthaft über Visafreiheit und auch die Zollunion zu reden. Nach Jahren der verkorksten und unzuverlässigen Beitrittsverhandlungen darf die Europäische Union nicht einen weiteren schweren Fehler machen und dem Kurs Erdogans nachgeben. Ich kann es nur immer wieder sagen: Der türkische Präsident führt sein Land weg von der EU. Nicht erst die Massenverfolgung seit dem gescheiterten Putsch, sondern schon die Aufkündigung des Friedensprozesses, der Wiederbeginn des Bürgerkrieges im Südosten der Türkei und der systematische Druck gegen die Pressefreiheit waren bereits vor dem gescheiterten Putsch unvereinbar mit den Zielen der EU-Verhandlungen. Ein Land, das so wie die Türkei in Afrin einen Angriff auf ein Nachbarland durchführt, ist nicht ernsthaft an einem Beitritt interessiert. Die Türkei ist heute in der großen Gefahr, sich sogar noch tiefer in die Wirren des Krieges in Syrien zu stürzen. Die erreichten demokratischen Fortschritte und die Stabilität gehen sehr schnell verloren.
Die Europäische Union hat keinen Knüller, keinen goldenen Schlüssel in der Hand, mit dem eine Umkehr in der Türkei von außen bewirkt werden könnte. So enttäuschend das auch ist, kann ich einen solchen Schlüssel jedenfalls nicht sehen. Es werden und können nur die Türken sein, die sich aus diesem Elend herausarbeiten werden. Allerdings gilt für die EU, dass wir mindestens seit der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen eine Verpflichtung eingegangen sind, die wir nicht einfach abstreifen können und dürfen. Gespräche mit dem Präsidenten und der Regierung müssen sein. Sie werden dann verantwortungslos, wenn die EU diejenigen im Stich lässt, die die Verfolgten sind, die die Demokratie oder das Recht hochhalten, die die Wahrheit sagen und schreiben wollen.
Auf dem Parkplatz von Silivri, zwischen dem Knast und dem Gericht, gibt es einen Kiosk ‘Last resort‘. Letzte Zuflucht. Tee, Toast und Snacks gibt es hier bis spät in die Nacht für alle, die frieren, selbst wenn es nicht kalt ist. Für die prominenten Beobachter des Cumhuriyet Prozesses genauso wie für die Soldaten und Wachmannschaften, aber auch für die vielen Männer und Frauen, deren “Fälle” von niemandem wahrgenommen werden. Hier, vor der „Letzten Zuflucht“ ist mir das ganze Ausmaß der politischen Verfolgung in der Türkei im wahrsten Sinne vor Augen gekommen. An diesem Kiosk, auf diesem Parkplatz von Silivri kommen die zusammen, die in der Türkei sonst wohl nie zusammen kommen. Die Solidarität unter uns, die wir zum Cumhuriyet Prozess kommen, trifft auf die Einsamkeit der vielen anderen.
Die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit muss das Hauptanliegen der EU gegenüber der Türkei sein. Beim Tee vor der “Letzten Zuflucht” habe ich noch klarer gesehen, dass die EU stärker gegen die Massenverfolgung eintreten muss. Und so banal es auch klingt ist die Unterstützung der Zivilgesellschaft schwieriger aber wichtiger denn je.