Rebecca Harms hat dem britischen Premierminister Cameron vorgeworfen, in der EU mit „fast erpresserischen Methoden seinen Willen“ durchsetzen zu wollen. Zum Widerstand Londons gegen Jean-Claude Juncker als möglichem EU-Kommissionschef sagte Harms im Südwestrundfunk (SWR), die Briten sollten „einfach mal klären, was sie wollen“. Sie müssten sich überlegen, ob sie mit ihrer derzeitigen Europapolitik nicht den eigenen Interessen schadeten, weil sie damit auch Schottlands Streben nach Unabhängigkeit beförderten. Für Londons Kurs sei bezeichnend, dass die Europa-Abgeordneten der Cameron-Partei im Parlament künftig mit der AfD zusammen arbeiten wollten. Niemand wolle, dass sich Großbritannien aus der EU zurückziehe. Aber London könne auch nicht immer wieder als „Bremser“ auftreten.
Geissler: Wenn nicht alles täuscht, wird der EU-Gipfel heute und morgen in Brüssel eine Premiere bieten. Zum ersten Mal werden die Staats- und Regierungschefs nicht einstimmig, sondern voraussichtlich nur mit großer Mehrheit einen neuen Kommissionspräsidenten vorschlagen. Der konservative Jean-Claude Juncker soll gegen den erklärten Willen der Briten für dieses Amt nominiert werden. Formal betrachtet ist das zweifellos demokratisch, aber ist es auch gut so für den Zusammenhalt in Europa?
Harms: Na, ich denke, dass nicht gut ist, dass Herr Cameron für die Briten seit geraumer Zeit versucht, mit fast erpresserischen Methoden seinen Willen durchzusetzen. Niemand hier will, dass Großbritannien aus der EU sich zurückzieht. Damit droht er immer wieder. Das Referendum in Großbritannien hängt über vielen Entscheidungen. Die Briten müssen einfach mal klären was sie wollen, und die können nicht immer sozusagen der Bremser der Entscheidungen sein.
Geissler: Na ja, die britischen Konservativen und Cameron sagen, wir sind gar nicht Mitglied der Europäischen Volkspartei, insofern waren wir auch gar nicht in dem Wahlkampf für diesen Spitzenkandidaten Juncker eingebunden und schon deshalb nicht irgendwie in der Pflicht, ihn mitzutragen. Das lässt sich doch formal ebenso wenig bestreiten, wie das was Sie sagen, oder?
Harms: Ja, das kann man so sagen, man kann dann auch gleich fortsetzen, dass die Delegation, die Gruppe der Cameron-Abgeordneten, dass die im Parlament mit der AFD von Herrn Lucke zusammenarbeiten wird. Das zeigt dann aber auch nochmal, wo Großbritannien in der Auseinandersetzung in Brüssel steht.
Geissler: Und dass London jetzt so brüskiert werden könnte, dass ein Austritt aus der EU noch näher rückt, wäre denn das zu verschmerzen in Ihren Augen?
Harms: Also, ehrlich gesagt, sehe ich die Lage für Großbritannien im Moment eher so, dass die mit ihrem antieuropäischen und europaskeptischen Kurs in London das Referendum in Schottland zugunsten der schottischen Unabhängigkeit befördern – darüber sollte in London auch mal nachgedacht werden. Und die großen Probleme, die auch Großbritannien hat, wirtschaftliche Probleme, wie soll man in dieser großen Auseinandersetzung mit Russland weiter arbeiten, wie gehen wir mit der großen Herausforderung Klimawandel um, welche Verantwortung haben wir gegenüber anderen Kriegs- und Krisengebieten - diese ganz großen Herausforderungen, die wird auch Großbritannien alleine gar nicht bestehen können.
Geissler: Vielleicht ist am Ende auch ziemlich unwichtig, wer nun die EU-Kommission führt, wo doch diese Persönlichkeit nur umsetzen muss, was der Gipfel inhaltlich beschließen will, nämlich, dass alle die Kompetenzen von Brüssel zurückverlagert werden sollen in die Nationalstaaten, mit denen sozusagen alleine mehr gewonnen ist als gemeinsam. Wie ist das, trauen Sie Juncker zu, dass er das schafft, ohne die EU auf, ich sage mal, Sparflamme bringen zu müssen?
Harms: Ich meine, wir kochen ja schon auf Sparflamme. Der Eindruck, dass hier Geld zum Fenster herausgeworfen wird systematisch, der ist ja beliebt, aber stimmt für Brüssel also an manchen Stellen - so wie das aber auch im nationalen Zusammenhang gefunden werden kann, wo der Eindruck, dass wir Geld zum Fenster raus werfen - das stimmt insgesamt nicht. Wir haben für große Projekte, zum Beispiel zur Bekämpfung der erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit, fast kein Geld, symbolische Summen sind dafür vorhanden. Und ich traue eigentlich dem Herrn Juncker einiges zu - nicht alles, einer alleine kann für 28 Staaten auch nicht nur den Sonnenschein machen - aber ich traue dem Juncker zu, dass mit seiner Erfahrung, seiner proeuropäischen Haltung, dass er tatsächlich in schwierigen Zeiten für Zusammenhalt sorgen kann und vernünftiges hinkriegen kann. Das hat er auch über weite Strecken in der Eurogruppe geschafft.
Geissler: Wenn ich mir ansehe, dass die EU letztes Jahr sechs Milliarden Euro gegen die Jugendarbeitslosigkeit locker gemacht hat, dann sagen Sie, dass ist zu wenig, aber außer Frankreich hat doch keines der betroffenen Krisenländer bis heute was abgerufen von dieser Summe. Liegt es dann wirklich an zu wenig Geld?
Harms: Also, erstens ist dieses Geld innerhalb des Sozialetats sozusagen umgeschichtet worden, das hat in anderen Bereichen Löcher aufgerissen, in denen es auch gebraucht wird. Und zweitens, wenn man das pro Kopf rechnet, der DGB hat es oft gemacht, ist es wirklich gering. Drittens ist es so, dass die Südländer, dass die ein ganz großes Problem mit der Gegenfinanzierung auch für dieses Geld haben. Ich glaube auch nicht, dass das nur eine Frage des Geldes ist, wie kommen wir aus der Jugendarbeitslosigkeit raus. Ich bin davon überzeugt, dass wir insgesamt für Europa eine Idee bekommen müssen davon, wie wir Arbeit schaffen, und wie wir für die Zukunft, wenn wir Arbeit schaffen, wieder so Wirtschaftsblasen vermeiden, und wie wir unsere jungen Leute auf die Herausforderungen durch bessere Ausbildung besser vorbereiten.