Ein Land erfindet sich neu – und muss sich gleichzeitig an allen Fronten verteidigen. Sind Frieden und Demokratie für die Ukraine verloren? Nein, sagt die Europapolitikerin Rebecca Harms: Denn die Bürger haben begriffen, dass sie den Staat, den sie wollen, nicht bekommen, wenn sie allein auf Veränderung von oben setzen.
Wenn über die Ukraine diskutiert wird, dann legen die, die mit mir reden, die Stirn meist in tiefe Falten. Entweder bekomme ich zu hören, dass es keine Lösung gegen den Willen Russlands gebe – und dass USA und EU eine Lösung erschweren, weil sie die russischen Gefühle nicht respektieren. Oder mein Gegenüber, erklärt mir, dass ich und eigentlich ganz Westeuropa nicht verstanden hätten, dass Diplomatie und Wirtschaftssanktionen als Reaktion auf Wladimir Putins neuen expansiven Kurs nicht ausreichen.
Die Meinungen gehen weit über das hinaus, was als Streit zwischen Putin-Verstehern und Putin-Gegnern beschrieben wird. Viele Befürchtungen, die seit der Annektierung der Krim wachsen, verstehe ich. Was ich nicht verstehe, ist, dass das Entscheidende übersehen wird: Von ihrem Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie werden sich die Ukrainer von außen nicht mehr abbringen lassen – weder von Wladimir Putin noch von deutschen Experten der Ostpolitik.
Ideen der Euromaidan-Bewegung nicht vergessen
Warum bin ich davon überzeugt? Nicht weil in Kiew der Präsident, die Regierung oder die Rada politisch alles schon gut machen. Ich sehe aber bei meinen regelmäßigen Besuchen, dass die Ukrainer trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände die Ideen der Euromaidan-Bewegung weiter verfolgen. Zwei sehr unterschiedliche Veranstaltungen in Kiew haben mir das in diesen Septembertagen erneut gezeigt.
Die Biennale 2015 versammelt an unglaublichen Orten Künstler aus der Ukraine und aller Welt. Wer Berlin schon zu kommerziell und die Avantgarde zu angepasst findet, der muss nach Kiew. Das "House of Clothes", ein vom Sozialismus zurückgelassenes Einkaufszentrum, wurde da zum Ort der Transformation.
Statt Pariser Haute Couture und Luxus "made in Italy" gibt es jetzt aber Kunst. Außerdem ist die Kiewer Biennale zu einem Ort einer neuen ukrainischen Streitkultur für Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Aktivisten geworden. Sie schafft Raum für spannende Debatten über den Zustand der Ukraine, die Zweifel an der EU, den Krieg im Osten, über Bataillone, Rassismus, Wahrheit und Pressefreiheit. In diesen Debatten versteht man, dass die Ukrainer auf der Suche nach einer Balance sind. Welche Veränderungen sind zu würdigen, wo muss Vertuschung verhindert werden? Die Bürger begreifen, dass sie den Staat, den sie wollen, nicht bekommen, wenn sie allein auf Veränderung von oben setzen.
Notwendige Reformen offen ansprechen
Wenige Tage nach Eröffnung der Biennale hat die Jalta-Konferenz wieder die Spitzen der ukrainischen Politik, Außenpolitiker, Journalisten, Unternehmer, Lobbyisten, Diplomaten aus aller Welt sowie Nichtregierungsorganisationen zusammengebracht. Seit dem Euromaidan und der russischen Annektierung der Krim hat sich vieles verändert. Die Konferenz, organisiert von der Stiftung eines sehr einflussreichen ukrainischen Unternehmers, findet nicht mehr auf der Krim statt, sondern in Kiew.
Die eher "geschlossene Gesellschaft", die sich einst in Jalta versammelte, ist offener geworden. Die neue Prominenz der Zivilgesellschaft bereichert die Debatten. Und die meisten reden nicht mehr um den heißen Brei herum, wenn es um die notwendigen Reformen geht. Minister und Abgeordnete bejubeln nicht mehr nur Erfolge, sondern sie sprechen auch über das, woran sie scheitern.
Der Chef des Anti-Korruptions-Büros erklärt, wie er arbeiten will, aber dass er nicht weiterkommt, wenn die Regierung die Staatsanwaltschaften nicht neu besetzt. Klar ist, dass die öffentliche Verwaltung zumindest in den Führungsetagen umgekrempelt werden muss und alle Beamten und Politiker so bezahlt werden müssen, dass sie davon leben können.
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Die Mühen der Reformen lohnen sich: Der Aufbau einer neuen Polizei wird nicht nur auf der Jalta-Konferenz als Fortschritt gewertet. Überall in Kiew habe ich in diesen Tagen junge Polizisten gesehen, denen Passanten Glück für ihre schwierige Arbeit wünschten. Stolz ließen sie sich mit ihnen fotografieren.
Ich kenne die Ukrainer gut genug, um zu wissen, wie mühsam der Weg in einen berechenbaren, zuverlässigen Rechtsstaat werden wird. Aber ich kenne sie auch gut genug, um zu wissen, dass sie nicht mehr umkehren werden. Auch wenn die Kämpfe im Osten weniger geworden sind: Der Kreml setzt darauf, die Ukrainer durch Destabilisierung zu verunsichern und die EU zu spalten. Mehr als 6000 Tote sind in der Ukraine zu beklagen, 1,5 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge, und ein großer Teil des Landes ist rechtswidrig annektiert worden oder wird von Milizen kontrolliert.
Ich teile die Meinung vieler Konferenzteilnehmer aus den USA und der EU und der Ukraine selbst, die die Umsetzung des Minsker Abkommens als Voraussetzung ansehen, um die Waffen zum Schweigen zu bringen. Die Kontrolle der Kontaktlinie zwischen der Ukraine und Russland bleibt dafür die wichtigste nicht erreichte Voraussetzung. Die EU muss den anhaltenden Destabilisierungsversuchen Russlands mit einer gemeinsamen Friedensstrategie entgegentreten.
Die EU ist nicht perfekt, aber sie funktioniert
Auch wenn das Recht der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen, unbestritten bleibt, so wird ein erfolgreicher Reformkurs doch als die eigentliche Antwort auf Präsident Putin gesehen. Dafür brauchen die Ukraine und ihre Politiker die ideelle, finanzielle und praktische Unterstützung der EU. Erfolge und Misserfolge werden Folgen für ganz Europa haben.
Eine Voraussetzung für den Erfolg ist, dass wir die Ukraine ehrlich und ehrgeizig begleiten. Die Strategie des Kremls richtet sich gegen den Erfolg, gegen die Attraktivität der EU für die Ukraine und weit darüber hinaus. Die EU ist nicht perfekt, aber funktioniert trotz aller Schwächen als demokratisches Modell. Ich bleibe überzeugt, dass die Ukrainer ihre Ziele erreichen können. Mit uns und auch für uns.
Von Rebecca Harms
Die Autorin ist seit 2009 Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Europaparlament. Die Niedersächsin, politisch „erwachsen“ geworden im Widerstand der Achtzigerjahre gegen das atomare Endlager Gorleben, ist sowohl Mitglied der EU-Ukraine-Delegation als auch der EU-Russland-Delegation.
Der Gastbeitrag wurde am 25.09.2015 veröffentlicht auf: http://www.haz.de/Sonntag/Gastkommentar/Gastbeitrag-von-Rebecca-Harms