Wird Jean-Claude Juncker nun EU-Kommissionschef oder nicht? Für die grüne Fraktionschefin Rebecca Harms gibt es keine Alternative - der Luxemburger soll versuchen, eine Mehrheit im Europaparlament zu finden. Denn entscheidend sei das Votum der Volksvertretung.
13.06.2014 | von Redaktion EU-Infothek
Brüssel (InsightEU) - Im Machtpoker um den künftigen EU-Kommissionspräsidenten sieht die grüne Europapolitikerin Rebecca Harms keine Alternative zu Jean-Claude Juncker. «Er hat die größte Fraktion hinter sich und soll jetzt nach einer Mehrheit im Parlament suchen», erklärte die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament im Gespräch mit dpa Insight EU. «Ich sehe dazu gar keine Alternative.» Trotz des anhaltenden Widerstands der Briten gegen Juncker sei aber vor allem das EU-Parlament bei der Wahl eines neuen Kommissionspräsidenten entscheidend.
Die grüne Fraktion werde das Programm des Luxemburgers prüfen und dann entscheiden, ob sie Juncker unterstütze, sagte Harms. Das Parlament habe versucht, das Rad der europäischen Demokratie ein Stück weiter zu drehen. «Es hat mich nicht überrascht, dass der Rat sich damit schwertut.»
Junckers christdemokratische Fraktion im Europaparlament hatte bei der Wahl Ende Mai die meisten Stimmen bekommen. Das EU-Parlament verlangte daraufhin von den Regierungen, Juncker zum Kommissionspräsidenten zu machen. Dagegen wehren sich mehrere Regierungschefs, darunter Großbritanniens Premierminister David Cameron.
Frau Harms, wer wird EU-Kommissionspräsident?
Es gibt einen Mann, hinter den sich die ganz große Mehrheit der Fraktionen des Europaparlaments gestellt und ihm den Auftrag gegeben hat, sich um eine Mehrheit zu bemühen. Das ist Herr Juncker. Fünf Fraktionsvorsitzende haben einheitlich dem Rat erklärt, dass Herr Juncker als Spitzenkandidat am Zug sei. Er hat die größte Fraktion hinter sich und soll jetzt nach Mehrheiten suchen. Ich sehe dazu gar keine Alternative.
Wie kommt es zu dieser großen Einigkeit? Will man im Parlament Tatsachen schaffen, damit für die Zukunft klar ist, dass der der Wähler den Kommissionspräsidenten bestimmt?
Die Kampagne war in einigen Ländern sehr intensiv und insbesondere in diesen Ländern ist es von großer Bedeutung, dass man hinter die Idee, Spitzenkandidaten für die Spitze der Kommission antreten zu lassen, nicht zurückgeht. Es geht für mich um die Erkennbarkeit und damit auch größere Verlässlichkeit europäischer Köpfe. Das Parlament versucht, das Rad der europäischen Demokratie ein Stück weiter zu drehen. Es hat mich nicht überrascht, dass der Rat sich damit schwertut.
Das ist natürlich nur die eine Seite. Auf der anderen Seite ist das Geschachere um Posten doch eines der Dinge, die die Wähler an der EU stören.
Es ist kein Postengeschachere ausgebrochen, sondern ein Machtkampf zwischen dem von den Wählern gewählten Parlament und dem Europäischen Rat. Ich finde es richtig, dass das Parlament erreichen will, dass der Kommissionspräsident künftig nicht mehr alleine dem Rat verpflichtet ist, sondern viel stärker auch dem Parlament und damit den Bürgern.
Nun wiesen einige Einlassungen der SPD schon in die Richtung, einen angemessenen Posten für den Spitzenkandidaten Martin Schulz zu fordern.
An dieser Auseinandersetzung sind die Grünen nicht beteiligt. Uns geht es um zwei Dingen: Wir wollen die demokratischen Verhältnisse in Europa weiterentwickeln. Und wir werden Herrn Juncker in unsere Fraktion einladen, wenn er die Fraktion um Unterstützung bittet. Und dann werden wir sein Programm und unsere Prioritäten diskutieren, und danach wird die Fraktion entscheiden, ob sie Juncker unterstützt.
Schließlich müssen auch die Inhalte eine Rolle spielen, das, wofür Juncker steht?
Das spielt eine sehr große Rolle. Wir haben bestimmte Prioritäten: Wir wollen nicht, dass so getan wird, als sei die Krise gelöst, während wir in vielen Ländern eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit haben. Es muss solidarische Maßnahmen für die nachhaltige Erholung der Wirtschaft geben.
Die Frage, wie die Rezession zu beenden ist oder Sparprogramme abzuschütteln sind, hat die Wähler in einigen Staaten in großer Zahl rechts- und linkspopulistische Parteien wählen lassen. Wie soll also der Aufschwung aussehen?
Unsere grüne Linie war schon immer: Solidarität und Solidität. Wir sind nicht gegen solide Haushalte, wir sind aber gegen das Totsparen - Länder, die stur Entschuldungsziele verfolgen, gesunden nicht automatisch. Dem Sparen müssen auch Einnahmen gegenüberstehen. In Griechenland etwa ist ein ganz großes Problem, dass der Staat eigentlich gar keine Einnahmen mehr erzielt. Der Haushalt wird solide, aber die Wirtschaft kaputt.
Wir müssen jetzt unbedingt über gemeinsame europäische Programme gegen die Rezession reden. Man könnte dazu die Kohäsionsfonds ganz anders nutzen als bisher, aber das wird allein nicht ausreichen. Es braucht Programme, mit denen wir insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen.
Also Hilfsprogramme, um die Wirtschaft zu stützen, aber trotzdem weiter sparen?
Nachhaltige Haushalte sind wichtig, aber die Nachhaltigkeit wird nicht erreicht, wenn man die Länder kaputtspart.
Thema Nachhaltigkeit: Die Kommission hat ihre jährlichen länderspezifischen Empfehlungen vorgelegt, von Nachhaltigkeit im Sinne ökologischer Fragen und Energiewende eigentlich keine Rede. Stört Sie das?
Ich halte das für völlig unverantwortlich. Das Programm ist in vieler Hinsicht überhaupt nicht zukunftsfähig. Meiner Meinung nach hat die EU in den letzten Monaten keine robuste Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt. Dass die Kommission kein Einspar- und Effizienzziel mit den Energie- und Klimaziele präsentiert hat, ist verantwortungslos, besonders wenn man an die Diskussion über die Abhängigkeit von Russland denkt.
Bei der Energieunion, die jetzt diskutiert wird, muss man darauf achten, Energieunabhängigkeit, Versorgungssicherheit und auch die Modernisierung des Energiesektors hinzukriegen. Erneuerbare Energien, Einsparung und Effizienz müssen unverzichtbarer Grundpfeiler dieser Energieunion sein.»
Kommen wir noch einmal zur Frage des Kommissionspräsidenten: Die Briten versuchen, Druck aufzubauen und machen Front gegen Jean-Claude Juncker. Wie beurteilen Sie dieses Manöver?
Es hat mich nicht überrascht. Es kann niemanden überrascht haben, denn es hat sich durch die ganze Kampagne gezogen, dass die Idee der Spitzenkandidaten in einigen Ländern nicht akzeptiert wurde. Die entscheidende Frage in dieser Auseinandersetzung ist, wo und wie das Parlament steht. Wenn das Parlament sich einig ist, dann können wir das gewinnen.
Es stellt sich darüber hinaus die Frage, wie einig Europa ist. In der Ukraine-Krise konnte man ein Zusammenrücken beobachten, auch der Euro bleibt für einige Staaten interessant. Oder?
Sehr proeuropäisch hat sich Polen entwickelt. Auch die völlig andere Wahrnehmung der militärischen Eskalation in der Ukraine hat die Annäherung an die EU forciert. Fast alle Länder, die näher an der Ukraine liegen und mit Russland in ihrer Geschichte Erfahrungen gemacht haben, identifizieren sich viel mehr mit der europäischen Idee als manche der alten EU-Staaten. Das ist tatsächlich einer dieser Brüche, die viel stärker bearbeitet werden müssen.
Was würde denn aus Ihrer Sicht ein EU-Austritt der Briten für die EU bedeuten - aber auch für die Briten?
Für die Briten wäre es besser, in der EU zu bleiben. Die Wirtschaftsdaten sprechen völlig gegen einen Austritt. Auch gesellschaftlich würde ein völlig falsches Momentum entstehen, wenn Großbritannien sich von der Europäischen Union abwandte. Für die EU ist nicht vorstellbar, was passiert, wenn große Mitgliedstaaten die EU verlassen. Man weiß nie, was das für eine Dynamik in Gang setzt. In Zeiten, in denen Populisten im rechten Teil des Spektrums und sogar Rechtsextreme mit antieuropäischen Ideen gewinnen, kann das keiner gut finden.
Auf der anderen Seite beobachte ich die Strategie von Cameron jetzt schon so lange - und ich glaube, das Referendum sollte stattfinden. Die Grünen in Großbritannien, die mit einem proeuropäischen Kurs erfolgreicher gewesen sind als zuvor, haben schon immer Ja gesagt zu Europa und zum Referendum. Und die sind nicht die einzigen, die so denken.
Ohnehin ist das Land in der Europafrage eher gespalten.
Der Zulauf für Antieuropäer und Rechtspopulisten funktioniert, indem ganz viele, oft national zu verantwortende Probleme auf die europäische Ebene projiziert werden. Die Wirtschaftspolitik in Großbritannien und die Hoffnungslosigkeit, die viele dort verspüren, sind nicht von Europa gemacht - sondern die Verantwortung liegt im Land selbst. Dass außer in der Finanzwirtschaft keine wirtschaftliche Entwicklung stattgefunden hat, das ist keine europäische Verantwortung.
Was bedeutet denn das Ergebnis der Europawahlen für die Grünen - und auch für Sie? Bleiben Sie Fraktionschefin der europäischen Grünen?
Für die Doppelspitze der Fraktion empfehle ich ein Konzept von Kontinuität und Wechsel. Ich werde die Fraktion gemeinsam mit Philippe Lamberts aus Belgien führen. Wir haben bei der Wahl große Erfolge gehabt, aber auch Verluste. In Schweden haben die Grünen sich verdoppelt und sind zweite Kraft geworden, wir haben in Großbritannien und Österreich dazugewonnen, wir waren in Ungarn sehr erfolgreich und hätten es in Tschechien fast geschafft. Demgegenüber haben wir in Frankreich viel verloren und haben auch in Deutschland Sitze eingebüsst.
Dennoch wird es für die Grünen im Europaparlament vermutlich schwieriger, eigene Vorstellungen durchzusetzen - da wir angesichts der neuen Verhältnisse wohl noch öfter eine große Koalition sehen werden.
Die Frage ist, ob diese große Koalition immer funktioniert, denn so überwältigend groß ist sie nicht. Aber für die Grünen wird das bedeuten, dass wir uns wie schon in der letzten Legislaturperiode nicht in eine Koalition hineinbegeben, wir werden entsprechend der Themen und unserer Programmatik und Prioritäten immer wieder entscheiden.
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Interview: Thomas Strünkelnberg, dpa