Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#schulz    23 | 06 | 2014

Interview im Deutschlandfunk - Europapolitik: "Eine Entscheidung der Abgeordneten"

Die Verhandlungen um die Verteilung der Spitzenposten in der EU stehen in der Kritik. Auch Rebecca Harms steht den klaren Forderungen aus der SPD skeptisch gegenüber. "Dass die Entscheidung eine der Abgeordneten ist, daran sollte sich jeder erinnern", sagte die Co-Vorsitzende der Europäischen Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament im Deutschlandfunk.

Bettina Klein: Kommissar muss er nicht werden, damit auch nicht stellvertretender Kommissionspräsident. Präsident des Europaparlaments reicht schon, so meinte SPD-Chef Sigmar Gabriel Ende der Woche, und meinte damit Martin Schulz. Wenn Schulz Parlamentspräsident wird, dann stimmen wir auch für Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten. Na nu, fragten sich da die Kritiker des Verfahrens. Ein Parteivorsitzender eines einzelnen EU-Mitgliedslandes möchte bestimmen, wer Präsident des ganzen Europaparlaments wird, oder formuliert das als Bedingung für eine zweite Personalie? Bestimmen darüber eventuell die Abgeordneten oder im Grunde nur die? Einige gaben sich auch öffentlich etwas brüskiert.

O-Ton Markus Ferber: "Das ist wirklich keine Personalie, die im Willy-Brandt-Haus von Herrn Gabriel zu entscheiden ist, und das stört mich schon an der ganzen Geschichte. Und dieses Geschachere ist jetzt von der SPD begonnen worden. Das hätte man auch in einem würdigeren Verfahren erreichen können."


Klein: Die Meinung des CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber, der sich vorgestern hier im Deutschlandfunk äußerte. – Am Telefon begrüße ich jetzt die Co-Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. Schönen guten Morgen.

Rebecca Harms: Guten Morgen.

Klein: Frau Harms, wie kommt Ihrer Meinung nach dieses Verfahren um die Personalpolitik im Augenblick bei der Öffentlichkeit und den Bürgerinnen und Bürgern an?

Harms: Ich glaube, dass wir da von Brüssel aus im Moment nicht die beste Figur machen. Das lässt sich aber einfach ändern. Es ist kein großer Schritt für die Staats- und Regierungschefs, sich hinter Jean-Claude Juncker zu stellen. Der hat eine Mehrheit im Europäischen Rat, noch nicht alle, aber der hat seine Mehrheit, und er hat auch im Europäischen Parlament eine Mehrheit, jedenfalls wenn auch die Sozialdemokraten ernst nehmen, was sie vor der Wahl und auch nach der Wahl gesagt haben, nämlich dass derjenige, der mit der stärksten Fraktion aus der Wahl hervorgeht, dass der sich um die Mehrheiten bemühen muss. Und sie haben ja immer signalisiert, dass sie dieses Spitzenkandidaten-Verfahren akzeptieren wollen.

Klein: Und Ihre Fraktion wird demnach auch Jean-Claude Juncker mittragen?

Harms: Unsere Fraktion ist bisher in all diese Verhandlungen überhaupt nicht einbezogen worden. Wir stehen zu diesem Prinzip, aber wir stehen auch dazu, dass wir von Jean-Claude Juncker ein Programm erwarten. Das wird er uns präsentieren in einer Anhörung, die wir im Juli durchführen, wenn der Rat ihn denn vorgeschlagen hat. Und danach wird die Grünen-Fraktion entscheiden.

Klein: Ich habe es Eingangs angedeutet: So ganz zu Ende ist das ja mit dem noch nicht, was viele Poker oder Geschachere nennen. Das heißt, die Zustimmung der Sozialdemokraten wird nun an eine Postenvergabe an Martin Schulz doch noch wiederum verknüpft, soweit wir das sehen. Er soll Präsident des Europaparlaments werden. Wie bewerten Sie das?

Harms: Ich war – und das kommt selten vor – mit Herrn Ferber sofort einer Meinung, als ich gesehen habe, wie Sigmar Gabriel das Ergebnis von Gesprächen in der Großen Koalition in Berlin verkündet hat und damit gleich sozusagen vorausgesetzt hat, dass eine Mehrheit des Europäischen Parlaments ihm folgt bei der Wahl des Parlamentspräsidenten. Martin Schulz, muss man dazu sagen, der hat wirklich auch Verdienste um das Europäische Parlament und um die Profilierung europäischer Politik. Aber dass die Entscheidung, wer Parlamentspräsident wird, natürlich in erster Linie eine Entscheidung der Abgeordneten des Parlaments ist, da sollte sich jeder dran erinnern, der in dieser Situation versucht zu schachern. Ich bin jetzt das dritte Mal dabei beim Beginn, bei der Vorbereitung einer neuen Kommission, und ich würde gerne sehen, dass die Öffentlichkeit versteht, dass die Probleme, die wir da oft haben in Brüssel, dass die auch zustande kommen, weil die Kommission schlecht vorgeschlagen wird und dann auch schlecht zusammengesetzt wird und dann auch schlecht arbeitet. Und die Idealvorstellung ...

Klein: Frau Harms, um da mal kurz nachzufragen. Wir sprechen hier weitgehend unabhängig von der Person, sondern zunächst mal einfach über das Verfahren, das Sie gerade auch kritisiert haben.

Harms: Genau!

Klein: Ist das auch etwas, was wir bei der Europawahl ja auch schon beklagt haben, dass diese Art des Verfahrens letzten Endes Wasser auf die Mühlen der EU-Kritiker ist?

Harms: Man sollte die Mitgliedsstaaten und die Parteien in den Mitgliedsstaaten kritisieren, die jetzt wieder den Neuanfang in Brüssel verderben. Richtig wäre es, wenn man jetzt den "Gewinner" der Europawahlen, Jean-Claude Juncker und die EVP, bitten würde, dafür zu sorgen, dass Juncker eine Chance hat, Kommissionspräsident zu werden. Noch in der letzten Woche sah das alles sehr gut aus. Da gab es auch noch keine Szenarien der SPD, die das infrage gestellt haben. Ich sage ausdrücklich, der SPD in Deutschland.

Klein: Ein weiterer Aspekt, der hier auffiel, Frau Harms, war, dass die Generalsekretärin der Sozialdemokraten dann auch selbstbewusst von einer Achse Juncker-Schulz sprach, die man in Europa brauche. Wie gefällt Ihnen das, Große Koalition in Berlin versucht, eine Große Koalition in Brüssel und Straßburg herzustellen?

Harms: Ja, und das bedeutet dann ja, dass auf dieser Achse auch höchst wahrscheinlich der Kollege Oettinger, der Kommissar Oettinger weiter mitspielt. Für Grüne, muss ich gleich dazu sagen, eine sehr große Zumutung, weil er eine vormoderne Energie- und Klimapolitik vertritt, und das macht jede Zustimmung für eine grüne Fraktion ausgesprochen schwierig. Aber noch mal zu diesem wichtigsten Gedanken: Gut wäre, wenn Juncker auf der Grundlage eines Programms, das er präsentieren sollte, dann die Möglichkeit bekommt, entsprechend dieses Programms auch eine gute Kommission zusammenzustellen. Die Mitgliedsstaaten, die Regierungen der Mitgliedsstaaten sollten Personalvorschläge machen, kompetente Leute. Aus jedem Land sollte es mindestens zwei Vorschläge geben. Es sollten Frauen dabei sein, die gut sind und die klug beitragen können. Dann könnte sich Juncker oder ein anderer endlich mal eine gute Kommission zusammenstellen. Das wäre das Gegenteil von diesen Deals, die da jetzt zum Beispiel in Berlin ausgeheckt werden.

Klein: Ein weiterer Punkt, der damit ja im Zusammenhang steht – ich habe es auch eingangs angedeutet: Die Sozialdemokraten in Deutschland, aber auch sozialdemokratisch geführte Regierungen in Europa wünschen sich offenbar etwas, was allgemein gesprochen als Lockerung des EU-Stabilitätspaktes angesehen wird. Das wird einerseits ja in Berlin dementiert. Es heißt, wir bleiben bei dem bisherigen Verfahren. Andererseits wird auch heute noch mal das Ganze zusammengefasst in dem Tenor, man wünsche sich mehr Freiheit beim Geldausgeben. Sind die Grünen inhaltlich zumindest bei dieser Frage auf der Linie der SPD und ist es richtig, die Zustimmung zu Herrn Juncker vom Erfüllen dieser Forderung abhängig zu machen?

Harms: Ich glaube, wir müssen darüber reden, was getan werden muss, damit wir aus der wirtschaftlichen Krise, der Rezession in den Krisenstaaten rauskommen. Das sieht ja sehr unterschiedlich aus in diesen Ländern und darüber wird ja schon seit Jahren gestritten. Da muss investiert werden und jetzt ist die Frage, wenn wir in Griechenland wieder investieren wollen müssen, wo kommt das Geld her und wofür wird es ausgegeben. Wir sind der Auffassung, dass es nicht per se richtig sein kann, wieder neue Schulden zu machen. Wir sind der Auffassung, dass geprüft werden muss, wie die Staaten auch wieder zu Einnahmen kommen. In Europa gibt es ein gigantisches Problem mit Steuervermeidung und Steuerhinterziehung und wenn wir das europäisch in den Griff kriegen könnten, wenn wir Mindeststeuersätze einführen könnten, wenn wir was gegen diese Steuervermeidung zwischen den EU-Staaten durch unterschiedliche Steuerbedingungen für Unternehmen machen könnten, dann hätten wir überhaupt kein Problem mehr mit neuen Investitionsprogrammen für nachhaltige wirtschaftliche Erholung.

Klein: Soweit können, glaube ich, da viele zustimmen, und wie gesagt, es wird in Berlin ja auch versucht, zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, es gäbe da größere Differenzen. Auf der anderen Seite hat sich Sigmar Gabriel da sehr stark offenbar doch noch mal engagiert, zumindest im Kreis seiner Parteikollegen auch in Paris am Samstag. Jetzt fragen sich aber viele, heute schon dürfen Staaten ohne Konsequenzen die Stabilitätskriterien verletzen, ohne dass es Konsequenzen gibt. Es gibt eine Menge Schlupflöcher, sage ich mal, auch im Stabilitätspakt, wo bestimmten Bedingungen Rechnung getragen werden kann. Heißt das, was jetzt im Raum steht, nach dieser Logik, noch mehr Staaten dürfen diese Kriterien noch stärker verletzen und es wird noch weniger Konsequenzen geben?

Harms: Ich glaube, dass das wirklich eine ganz schwierige Frage ist, weil der Fiskalpakt, so wie er angewandt worden ist, hat in einigen Ländern überhaupt nicht zur Verbesserung der Situation außer in der Buchhaltung gegenüber Brüssel beigetragen, sondern der Fiskalpakt hat die Situation verschlechtert. Und wie man diesen Ländern wieder eine Chance gibt, darüber muss eine Entscheidung getroffen werden, und in Deutschland muss man sich daran erinnern in dieser Auseinandersetzung, dass wir, wenn wir in wirtschaftlichen Krisen gewesen sind - vor einigen Jahren war das die Autoindustrie, die wirklich fast vor dem Einbruch stand -, dass wir auch immer dagegen mit öffentlichen Investitionen gearbeitet haben. Und das jetzt zu klären, das finde ich sehr wichtig. Ich bin der Meinung, dass nachhaltige Haushaltspolitik immer die Ausgaben und die Einnahmen in Einklang bringen muss, und deswegen glaube ich, dass es das Wichtigste ist für die Europäische Union und die auch finanzielle Stabilität der Staaten, dass sie die Einnahmen, die ihnen zustehen, auch erzielen.

Klein: Eine kurze Nachfrage noch zu dem, was ich noch nicht ganz genau verstanden habe in Ihrer Antwort. Darf man die Forderung nach einer weiteren Lockerung des Stabilitätspaktes - nennen wir es mal so - verbinden mit der Zustimmung zu einer Personalfrage?

Harms: Ich halte das in dieser Situation für ausgesprochen schwierig. Aber richtig wird sein, dass alle die sogenannten Krisenstaaten, der gesamte Süden, der wird natürlich bei den Sozialdemokraten, bei den Linken, auch innerhalb der Grünen, der wird eine Antwort darauf wollen von Jean-Claude Juncker, wie er die Länder des Südens, die Krisenländer aus der tiefen wirtschaftlichen Krise herausführen will, wie er die Arbeitslosigkeit, auch gerade die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen will. Und das ist dann nicht eine Frage nur an Jean-Claude Juncker, sondern dahinter muss auch die Entscheidung im Rat getroffen werden.

Klein: Und vielleicht wird es die eine oder andere Entscheidung bereits in dieser Woche geben beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag. – Das war heute Morgen im Deutschlandfunk die Co-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Harms.

Harms: Auf Wiederhören!


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