Der künftige Präsident der EU-Kommission muss für eine nachhaltige Wende in Europa sorgen.
Von Rebecca Harms und Philippe Lamberts
Was würde Jean Monnet, einer der Gründungsväter der europäischen Gemeinschaften, wohl zu diesem frisch gewählten Europäischen Parlament sagen? Einem Parlament, in dem erstmals EU-Skeptiker die drittgrößte Fraktion stellen. Und was wären seine Forderungen an den künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission? "Wir einigen keine Staaten. Wir bringen Menschen einander näher", sagte Monnet 1952 über das europäische Projekt. Heute müssen wir uns fragen, ob die europäischen Bürger diese Idee überhaupt noch nachvollziehen können.
Mit dem Ergebnis der Europawahl ist klar, dass Jean-Claude Juncker - sollte er tatsächlich von der Mehrheit des Parlaments zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt werden - genau wie wir EU-Abgeordnete vor sehr großen Herausforderungen steht. Die in einigen Ländern katastrophal schwache Wahlbeteiligung gepaart mit der wachsenden Zustimmung für Europagegner, Nationalisten oder gar Rechtsextreme ist ein Alarmzeichen. Auch unsere Erfahrungen im Wahlkampf zeigen, dass das Verständnis der Bürger für europäische Politik nicht gewachsen, sondern geschrumpft ist. Immer mehr Menschen sehen die Brüsseler Institutionen nicht als ihre Institutionen an.
Dass die Parteien erstmals mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten in den Wahlkampf gezogen sind, soll für mehr Erkennbarkeit und Verbindlichkeit europäischer Politik sorgen. Jean-Claude Juncker muss zeigen, wie er den Dialog zwischen Politikern und Bürgern neu führen will. Dazu gehört bestimmt eine Öffnung der europäischen Institutionen, mehr Bürgerbeteiligung und dass EU-Entscheidungen nachvollziehbarer werden.
Entscheidend wird aber sein, wie die künftige EU-Kommission den Weg aus der Finanz- und Wirtschaftskrise weitergehen will. Ja, wir müssen die Verschuldung der Staaten in den Griff bekommen. Ja, dafür braucht es Reformen. Aber die pure Austeritätspolitik darf nicht weitergehen. Jean-Claude Juncker spricht in seinem Programm für die kommende EU-Kommission von Investitionsprogrammen für Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum. Das klingt gut. Aber wie will er die finanzieren? Offenbar sind doch alle öffentlichen Kassen leer. Es gäbe tatsächlich eine ziemlich ergiebige Geldquelle. Aber dafür müsste Jean-Claude Juncker endlich das angehen, was er jahrzehntelang als Ministerpräsident von Luxemburg mit verantwortet hat: Steuerhinterziehung und -vermeidung innerhalb der Europäischen Union und von EU-Bürgern im Ausland. Die EU-Kommission schätzt die jährlichen Kosten für die Staatskassen auf mehr als 1000 Milliarden Euro. Diese Summe ist viel höher als das, was die Länder mit schmerzhaften Reformen einsparen können.
Aber bisher ist die Steuerpolitik Sache der Mitgliedstaaten. Alle Versuche, hier zu harmonisieren, sind bisher am Widerstand der Staats- und Regierungschefs gescheitert. Diesen Widerstand zu brechen, wäre eine echte Herausforderung für Juncker. Die Mitgliedstaaten müssen gemeinsam Steuerpolitik machen. Die Harmonisierung der Unternehmenssteuer wäre ein erster wichtiger Schritt dazu.
Investiert werden muss dieses Geld dann in nachhaltige wirtschaftliche Erholung. Einfach wird das nicht für Juncker. Die Barroso-Kommission hat die Krisenjahre und die Zukunftssorgen der Bürger genutzt, um unsere Errungenschaften im Umwelt- und Klimaschutz zurückzudrehen. Jose Manuel Barroso und der deutsche Energie-Kommissar Günther Oettinger stehen für das alte Denken, dass Klima- und Umweltschutz nicht Chancen auf Innovation bringen, sondern Unternehmen und Industrie schaden. Bestes Beispiel für diese Haltung ist die laufende Diskussion um eine europäische Energieunion. Geht es nach Oettinger und Co., soll diese eine Renaissance für Kohle und Atomkraft bringen. Das ist das Gegenteil von nachhaltiger und zukunftsorientierter Energiepolitik.
Wird ein Kommissionspräsident Juncker sich trauen, gegen Lobbyisten und Energie-Fossile wie Oettinger eine Politik zu forcieren, die auf erneuerbare Energien, Energieeinsparung und Effizienz setzt? Wird er sich für vernünftige Klima- und Energieziele für die Zeit nach 2030 einsetzen? Ein solcher Energie-Pakt wäre ein echtes Zukunftsprojekt und würde auch die Zustimmung der Bürger zum europäischen Projekt erhöhen.
Die Europäische Union steht weltweit für gute Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz. Mit der Eröffnung der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA stellen die Regierungen und die EU-Kommission unsere europäischen Errungenschaften infrage. Was den Bürgern bisher Sicherheit gab, wird jetzt von der EU-Kommission zum Handelshemmnis erklärt, das beseitigt werden muss. Das Abkommen ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Gedanke einer nachhaltigen Entwicklung nur noch ein rhetorischer Baustein für Sonntagsreden ist. Eine EU-Kommission mit Präsident Juncker an der Spitze wird auch in diesem Bereich sehr schnell zeigen müssen, wofür sie steht. Ein Stopp der Verhandlungen wäre das beste Signal.
Wir wissen, wie wichtig die Wahl eines europäischen Spitzenkandidaten zum EU-Kommissionspräsidenten ist, damit dieser sich nicht nur den Regierungen, sondern vor allem dem Europäischen Parlament und damit den Bürgern verpflichtet fühlt. Aber für uns Grüne zählt auch das Programm. Wir werden nach einer öffentlichen Anhörung mit Juncker entscheiden, ob und wie wir ihn unterstützen.
Rebecca Harms und Philippe Lamberts sind Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament.
Erschienen in der Frankfurter Rundschau am 9. Juli 2013.