Am 2. September 2015 lud die GRÜNE/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament zur Konferenz "Dismantling the nuclear argument: Why nuclear is no climate-friendly solution!". Im Vorfeld der COP21-Klimaverhandlungen in Paris hat sich die Lobbyarbeit der Atomindustrie intensiviert. Riesige Mengen Geld werden ausgegeben, um die Kernenergie als "CO2-arme Technologie" oder "klimafreundliche einheimische Energiequelle" zu fördern, um den Bau neuer Kernkraftwerke zu fördern und das Herunterfahren von gefährlichen alten Reaktoren zu verhindern.
Um die Atomenergie und die Arbeit der Lobbys zu entlarven veranstalteten Rebecca Harms und Claude Turmes eine Konferenz, die mit Hilfe des von Mycle Schneider vorgestellten World Nuclear Industry Status Reports 2015 einen Blick auf den Zustand der Atomenergie weltweit warf und im zweiten Teil die von Yves Marignac (WISE-Paris) vorgestellte Studie "Nuclear Energy and Climate Change" diskutierte.
Der Anteil der Atomenergie am weltweiten Strommix ist vom Höchststand von 17,6 Prozent im Jahr 1996 auf 10,8 Prozent anno 2014 gesunken. Gleichzeitig sind die Investitionen in erneuerbare Energien wie Windkraft, Photovoltaik und Biomasse-Verstromung in den vergangenen zwei Jahrzehnten so stark gewachsen, dass ihr Zuwachs bei der Stromproduktion inzwischen sechsmal höher ist als der der Kernkraft.
Die Zahl der weltweit betriebenen Atommeiler ist rückläufig. Laut dem "World Nuclear Industry Status Report 2015" war das Maximum 2002 mit 438 Reaktoren erreicht. Derzeit sind noch 391 am Netz. Den größten Einschnitt brachte der Super-Gau von Fukushima 2011, in dessen Folge Japan sämtliche AKW abgeschaltet hat. Unklar ist allerdings, wie viele der rund 50 noch intakten Reaktoren in dem Land wieder anlaufen werden. Die Regierung in Tokio hat den Wiedereinstieg beschlossen und die ersten AKW bereits wieder ans Netz gebracht.
Die Internationale Atombehörde (IAEA) führt die japanischen Anlagen weiter als "in Betrieb" und kommt so aktuell auf weltweit 437 Reaktoren. Tatsächlich wird damit gerechnet, dass mindestens ein Drittel der japanischen AKW den Betrieb wieder aufnehmen könnte. Der globale Höchststand von 2002 würde dadurch aber nicht wieder erreicht. Die Zahl der abgesagten und unterbrochenen Bauprojekte ist zwischen 1977 und 2015 auf insgesamt 92 gestiegen.
Das Durchschnittsalter der Reaktoren weltweit steigt derweil - und damit die Störfallanfälligkeit. Es liegt laut dem Report inzwischen bei knapp 29 Jahren. Mehr als die Hälfte der AKW laufen länger als 30 Jahre, 54 sind sogar älter als 40 Jahre. Der Grund für die Alterung: Die Neubautätigkeit ist stark gesunken. Die ältesten noch aktiven Reaktoren befinden sich in der Schweiz.
In den 1980er Jahren, der Hochzeit der Atomkraft, gingen pro Jahr teils über 30 Reaktoren neu in Betrieb, inzwischen sind die Zugänge nur noch einstellig. Weltweit werden laut der offiziellen Statistik derzeit 62 Reaktoren neu gebaut, vor allem in China, Russland, Indien und Süd-Korea. Drei Viertel davon verzeichnen allerdings zum Teil gravierende Bauzeit-Überschreitungen, darunter auch die beiden europäischen Neubau-AKW in Finnland und Frankreich, deren Baukosten zudem von geplanten drei auf rund acht Milliarden Euro anwuchsen. Fünf der als "im Bau" eingestuften Projekte stehen laut dem Report allerdings bereits seit über 30 Jahren in dieser Rubrik.
Die Autoren des Reports rechnen damit, dass die Erneuerbaren Energien die Atomkraft als "CO2-freie" Technologie ablösen werden - aus Kostengründen. Diese Tendenz zeichnet sich bereits ab: Seit 1997, als das Kyoto-Protokoll beschlossen wurde, stieg die jährliche Stromerzeugung aus AKW laut dem Bericht um 147 Terawattstunden (TwH), die aus Windkraft und Solarenergie aber fast sechsmal so stark, um rund 880. Während die Baukosten neuer AKW explodierten, werde der Ökostrom immer billiger. Seit einigen Jahren gibt es in Europa einen höheren Zubau an erneuerbaren Energien als an Atomkraft. Selbst in China ist die zugebaute Kapazität an Windenergie höher als an AKWs.
Der renommierte Nuklearexperte und Hauptautor des Reports, Mycle Schneider, forderte angesichts dieser Entwicklungen einen "Realitäts-Check" der Politik, besonders in Ländern wie Großbritannien und Frankreich, die dennoch eine nukleare Renaissance propagierten. Er warnte davor, AKW-Neubauten - wie beim britischen Projekt Hinkley Point C - mit hohen öffentlichen Subventionen durchzudrücken. Subventionen wären nötig um AKWs überhaupt bauen zu können, da selbst staatliche Atomkonzerne vermehrt große finanzielle Verluste einfahren.
Die von der britischen Regierung geplante Förderung des Projekts wird über die 35 Jahre Laufzeit auf bis zu 108 Milliarden Euro geschätzt. Um das Weltklima zu schützen, seien die Investitionen in die Atomkraft nicht effektiv angelegt. Der Bau der AKW dauere zu lang und sei viel zu teuer.
Nach der Präsentation dieser Ausgangssituation widmete sich dich Konferenz der Frage, ob unter diesen Voraussetzungen und unter Berücksichtigung der bekannten Gefahren der Atomenergie, diese überhaupt einen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann - und darf.
Yves Marignac, Direktor von WISE-Paris stellte in diesem Zusammenhang Auszüge aus der Studie "L'option nucléaire contre le changement climatique" vor, die in den nächsten Wochen veröffentlicht wird.
Marignac kommt darin zu der begründeten Schlussfolgerung, dass die Atomenergie ein Hindernis für die Energiewende und damit auch für mehr Klimaschutz ist. Kernkraft ist auf wenige Prozent der weltweiten Energieproduktion beschränkt und könnte daher einen geringen Beitrag zur CO2-Minderung leisten. Kernkraft liefert damit weitaus weniger CO2-Minderung als Erneuerbare Energien liefern könnten und ist zudem deutlich teurer. Der Zubau von neuen Kapazitäten kann nur wesentlich langsamer erfolgen. Neue und geplante AKWs können daher nicht über den Klimaschutz gerechtfertigt werden.
Atomkraft ist zudem eine Hochrisikotechnologie: Sie birgt die globale Gefahr der Verbreitung gefährlicher Technologien, die auch für militärische Zwecke verwendet werden können, sowie das Risiko eines schweren Unfalls und die nach wie vor ungelöste Generationenfrage der Lagerung radioaktiver Abfälle.
In der Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland zeigt sich deutlich, dass der Ausstieg aus der Atomenergie bei gleichzeitigem Zubau an neuen Kapazitäten erneuerbarer Energiequellen, dem Engagement gegen den Klimawandel zuträglich ist. In Frankreich wird hingegen deutlich, dass ein hohes Maß an Atomenergie mit langfristiger Reduktion von CO2-Emmissionen nicht vereinbar ist.
Atomkraft sorgt für eine Einsparung von nur 4 Prozent der energiebedingten CO2-Emmissionen. Seit dem Bau der ersten AKWs ist sind die energiebedingten Emissionen jedoch 20-mal so hoch, wie die die durch Atomkraft eingespart wurden. Der Effekt der Kernkraft ist also marginal.
Während der Diskussion wies Rebecca Harms auch auf die Gefahren hin, die Atomkraftwerke für militärische Auseinandersetzungen darstellen. So hat es in der Ukraine seit Beginn der Auseinandersetzungen mehrfach gefährliche Situationen und Angriffe auf Kraftwerke gegeben.
Abschließend fügte Rebecca Harms hinzu, dass nur eine nachhaltige Strategie der Energieproduktion zu mehr Wachstum und neuen Arbeitsplätzen führen kann. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist daher nicht nur zwingend um den Klimawandel zu verhindern, sondern als Teil des Green New Deals auch ein Baustein für dauerhafte Arbeitsplätze in Europa.