Seit die Atomspaltung der Energieerzeugung dient, wird um ihre Risiken und Gefahren gestritten. In Europa ist dieser Konflikt seit dem GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 eigentlich entschieden: Eine Mehrheit der Bürger des Kontinents lehnt diese Technik ab.
Hinter dieser Ablehnung steckt mehr als nur Instinkt. Auch wenn Japaner, Franzosen, Schweden, Finnen oder Deutsche jeweils mit der Vorstellung leben, ihre eigenen Anlagen seien im Vergleich die sichersten: Immer wieder schrammen die Betreiber von Atomanlagen an der Wiederholung des Katastrophenfalls vorbei.
Nach Tschernobyl gab es in Russland 1993 eine Explosion in der Wiederaufarbeitungsanlage Tomsk. In Japan brannte es 1995
im schnellen Brüter Monju, der seither abgeschaltet ist. In Frankreich liefen 1998 etwa 300 m3 Kühlwasser in das Reaktorgebäude von Civaux bevor das Leck ganze 10 Stunden später isoliert werden konnte. Im amerikanischen Kraftwerk Davis-Besse wurde 2003 ein großes Loch im Deckel des Reaktordruckbehälters entdeckt. Fünf Millimeter Stahl trennten das Land noch von der Katastrophe. Im ungarischen Kraftwerks Paks liegen seit 2003 über 3,5 t Brennstoff auf dem Boden eines Reinigungsbehälters. Der gefährliche Clean-up hat diese Woche begonnen und soll mehrere Monate dauern. In der englischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield liefen 80 m3 Salpetersäure aus, die ca. 22 Tonnen Uran und 200 kg Plutonium enthielten. Die Anlage liegt seither still.
Im AKW Brunsbüttel explodierte 2001 eine Druckleitung nahe am Reaktorkern. Der Stromausfall im Juli 2006 im schwedischen AKW Forsmark hat Schlagzeilen gemacht. Doch viele beinahe-GAUs schaffen es nicht einmal in die Nachrichtenredaktionen. So hat am 31. August 2006 eine Panne das gesamte französische Atomzentrum Cadarache von der Stromversorgung abgeschnitten.
Ein Unfall von Tschernobylausmaßen kann jederzeit überall passieren. Um diese Folgen streiten sich Wissenschaftler rund um den Jahrestag über die Frage, ob 30.000, 60.000 oder über 100.000 Menschen durch vom Fallout verursachten Krebs sterben werden. Ein grausiger Streit. Noch unerträglicher wird es, wenn man die vielfältigen Folgen für Menschen und Umwelt betrachtet, die im Schatten dieses Wissenschaftlerstreites bleiben.
Die Ablehnung der Atomenergie liegt aber nicht nur im Unfallrisiko begründet. Diese birgt noch schlimmere Risiken. Während die Atomkraft als probates Mittel gegen den weltweiten Klimawandel propagiert wird, droht Pjöngjang mit der Atombombe. Die ganze Welt schreckt auf. Auch wenn Experten den Test inzwischen als gescheitert ansehen, da die Stärke der Explosion mit etwa 0,5 Kilotonnen ungewöhnlich gering blieb, die Welt zählt seit dem Oktober 2006 einen neuen Atomwaffenstaat.
Die angebliche Unterscheidung von ziviler und militärischer Nutzung der Atomkraft war und ist trügerisch: Reaktor und Bombe sind siamesische Zwillinge, wie der schwedische Physiker und Nobelpreisträger Hannes Alven formulierte. Auch die Unterzeichnerstaaten des Nicht-Weiterverbreitungsvertrags verpflichten sich einerseits auf den Bau der Atombombe zu verzichten, andererseits „den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern und sind berechtigt, daran teilzunehmen“. Just auf dieses „unveräußerliche Recht“ pocht heute das Unterzeichnerland Iran. Hinzu kommen diverse bereits bekannte und noch unbekannte subnationale Interessenten an der Atomtechnologie. Eine sichere Endlagerung für hochradioaktive Abfälle für Jahrtausende kann bis heute nirgendwo garantiert werden. Unklar ist auch, woher das Geld für die bestmögliche Entsorgung kommen soll. Wer garantiert, dass in 30 oder 40 Jahren ausreichend Geld für Rückbau und Lagerung verfügbar sein wird? In den meisten Atomstaaten ist davon auszugehen, dass der Steuerzahler die Rechnung für den Müll übernehmen muss.
In Europa ruhen die Hoffnungen der Anhänger der Renaissance der Atomenergie auf Finnland. Dort baut die deutsch-französische AREVA NP, an der Siemens 34% des Kapitals hält, den Prototypen des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR). In Rekordzeit soll zum Festpreis der Bau fertig gestellt werden. Nach einem von fünf Jahren geplanter Bauzeit hat sich das Projekt um ein Jahr verzögert. Die finnische Aufsichtsbehörde STUK hält in einem Bericht fest, in der Ausschreibung für den Bau seien billigste Angebote ausgewählt worden, viele der am Bau beteiligten Unternehmen hätten keine Erfahrungen im Atombereich, auf der Baustelle würden mindestens 20 Sprachen gesprochen und die Verkehrssprache Englisch würde nicht von allen ausreichend verstanden. Zeit- und Kostendruck gehen zu Lasten von Qualität und Sicherheit. Trotzdem hat AREVA bereits 300 Mio. € Verlust, 10% des Auftragswertes, schon angemeldet. Dabei ist eine Wettbewerbsbeschwerde bei der EU-Kommission wegen unverhältnismäßig billiger Kredite und Exportkreditgarantien in dreistelliger Millionenhöhe noch nicht einmal entschieden.
Die Behauptung, dass Atomenergie eine große Rolle beim Kampf gegen den Klimawandel spielen könne, wird durch unendliche Wiederholung auch nicht richtiger. Deren Anteil an der Endenergie weltweit ist dafür mit etwa 2 Prozent viel zu gering. Und selbst in Frankreich, dem Mekka der Atomindustrie, wird gerade einmal 15% des Endenergieverbrauchs durch Atomkraftwerke gedeckt.
Fast 10 Milliarden kWh netto Kohlestrom hat das Atomland letztes Jahr außerdem aus Deutschland bezogen. Die Zahl der Reaktoren weltweit stagniert praktisch seit Ende der 80er Jahre und wird mittelfristig eher zurückgehen. Laut Wiener IAEO sind derzeit 28 Meiler im Bau, darunter 10, die bereits seit 19 bis 31 Jahren durch die Statistik geistern. Selbst wenn China bis zum Jahre 2020 zwanzig neue Blöcke bauen würde, könnte das die Abschaltungen aus Altersgründen nicht auffangen. In der Zwischenzeit produziert Spanien mehr Atomstrom als China und Slowakien übertrifft Indien.
Der Umwelt hilft das alles nicht. Gegen den Klimawandel hilft nur eine Strategie, die endlich die Fixierung der Energiekonzerne, Ministerien und auch der Bürger auf die Energieproduktion durchbricht. Einsparung und Effizienz müssen überall da Priorität bekommen, wo Energie erzeugt oder verbraucht wird. Nur Negawatt statt Megawatt und der rasche Ausbau der regenerativen Energien können den Klimawandel noch bremsen.