Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#türkei    02 | 09 | 2016
Blog

Weitere Verhaftungswelle gegen unabhängige Journalisten und Regierungskritiker - Ali Yurttagül, Freund und Berater, steht unter Terrorverdacht

Die Nachrichten aus der Türkei von immer neuen Verhaftungswellen, von Massenentlassungen und Angriffen auf die unabhängigen Medien und kritischen Journalisten des Landes beschäftigen mich seit Wochen. Betroffen waren immer wieder Journalisten, mit denen ich zusammengearbeitet hatte, wie Can Dündar oder Yasemin Congar. Als am vergangen Dienstag mein Handy klingelte, rückte die bedrohliche Entwicklung in der Türkei aber noch ein Stück näher. Ali Yurttagül, der meine Arbeit zur Türkei als Berater begleitet und mit dem ich immer wieder in seinem Heimatland unterwegs war, berichtete mir telefonisch, dass sein Haus in Istanbul von der Polizei durchsucht werde. Etwas später erfuhren wir, dass gegen ihn ein Haftbefehl erlassen worden sei und sein Name auf einer Liste von Personen stehe, denen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen würden - alle von ihnen Journalisten und Kolumnisten unabhängiger Medien. Inzwischen wissen wir, dass mehrere von ihnen tatsächlich festgenommen wurden - anders als Ali, der sich nicht in Istanbul aufhielt, als die Polizisten um fünf Uhr morgen begannen, sein Haus zu durchsuchen.

Ich kenne Ali seit über 30 Jahren. Wir waren Kollegen in der ersten grünen Fraktion im Europaparlament 1984. Ali blieb Referent der Fraktion zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei bis zu seiner Pensionierung. Ali ist vielseitig. Er ist ein unabhängiger Kolumnist, kritisch gegenüber Entwicklungen in Deutschland und der Türkei, er ist ein überzeugter Grüner, ein Gewaltfreier, ist Imker und hat in seinem Stadtteil in Istanbul ein wunderbares Urban Gardening Projekt mitorganisiert. Eines ist er aber sicher nicht: ein Terrorist. Die Polizeiaktion und der Haftbefehl gegen ihn sind ungerechtfertigt. Die Anschuldigungen sind haltlos und allein politisch motiviert. Dass gegen ihn überhaupt vorgegangen wird, zeigt, wie groß der Kreis derer geworden ist, die die türkische Regierung unter Terrorverdacht stellt oder versucht unter dem Vorwand des Terrorverdachts einzuschüchtern und mundtot zu machen. Unser Kollege und mein Freund Ali ist ein Beispiel unter Tausenden, das zeigt, wie aus der Aufklärung des Putsches und der Verfolgung der Verantwortlichen eine Jagd gegen Oppositionelle und Kritiker geworden ist. Ali wird breite Unterstützung aus dem gesamten Parlament bekommen. Es wäre gut, wenn so viel Aufmerksamkeit  wie möglich auch für möglichst viele Einzelfälle gäbe. Die deutschen und europäischen Journalistenverbände, Pen Interntional aber auch viele Botschaften bemühen sich zurzeit sehr, auch die Gerichtsanhörungen und Prozesse zu beobachten.
 
Der gescheiterte Staatsstreich gegen die gewählte Regierung der Türkei war ein brutaler und illegaler Akt. Ich verurteile das Vorgehen der Putschisten scharf und habe dies seit der schrecklichen Nacht im Juli  immer wieder auch öffentlich gesagt. Der Mut türkischen Bürger, die sich in der Nach des 15. Juli den Panzern entgegen gestellt haben hat mich beeindruckt. Nun ist es die Aufgabe der türkischen Justiz, die Verantwortlichen und Beteiligten zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Dies muss allerdings nach rechtsstaatlichen Regeln geschehen. Der versuchte Coup darf nicht zur Begründung dafür werden, mit größter Härte gegen alle vorzugehen, die Präsident Erdogan und seiner Politik kritisch gegenüber stehen.  Präsident Erdogan selbst hat den Coupversuch als Geschenk des Himmels bezeichnet. Zurzeit fürchte ich, dass der Putsch, die Reaktionen darauf und die Folgen die Türkei gesellschaftlich und politisch sehr weit und vielleicht auf lange Zeit vom Kurs der Demokratisierung abbringen können.
 
Das Verhältnis zwischen Europäischer Union und der Türkei wird durch die jüngsten Entwicklungen weiter belastet. Die Massenverhaftungen und die systematischen Unterdrückung der Opposition darf die EU nicht ignorieren. Dass sogar Familienangehörige von gesuchten Journalisten in Geiselhaft genommen und bedroht werden zeigt die wachsende Rechtlosigkeit derjenigen, die in die Mühle der Säuberung geraten. Auf allen politischen Ebenen müssen wir uns für die Rechte von verhaftete Journalisten, Juristen oder Lehrern und Beamten einsetzen. Ich habe dies schon in den letzten Wochen getan und tue dies natürlich auch für Ali.
 
Die Entwicklungen bedeuten auch neue Herausforderungen für das schwierige Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Viele Bürger beschweren sich, die EU mache sich damit erpressbar. Wer das nicht will, der muss für großzügige Aufnahmekontingente eintreten. Die direkte Übernahme von Syrienflüchtlingen aus den Nachbarländern Syriens in die EU ist der bessere Weg der Situation gerecht zu werden. Wenn es in der Aufnahme nicht zu einer gesamteuropäischen Lösung kommt,  muss eine Gruppe von Mitgliedsländern vorangehen und gemeinsam Kontingente verabreden.  Eine solche Antwort aus der EU entspricht nicht nur unserer globalen Verantwortung, sondern bringt uns auch in eine stärkere und unabhängigere Position für das weitere Umgehen mit der Türkei. Denn eines steht trotz der aktuellen Verwerfungen außer Frage: wir werden auch weiterhin mit der Türkei verhandeln und zusammenarbeiten. Ein Abbruch der Verhandlungskanäle als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung wäre also falsch. Falsch wäre es aber auch, den aktuellen Entwicklungen kritiklos gegenüber zu stehen.

 


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