Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#landluft    21 | 03 | 2017

Verweigerin des vorgegebenen Weges

Zwischen Heimat und Europa: In Deutschland gilt die Grüne Rebecca Harms als ewige Anti-Atom-Aktivistin, in Brüssel ist sie als ehrliche Maklerin – nicht nur gen Osten – gefragt .

DER ZUG RATTERT schon ziemlich lange von Warschau über Kattowitz gen Prag. Draußen fliegen flache Landschaften vorbei. Drinnen sitzt Rebecca Harms im Bordbistro. Es gibt dünnen Tee sowie starken osteuropäischen Kaffee. Für Harms ist das Ganze auch eine Zeitreise. Klima, Atomstrom, offene Gesellschaft – grüne Themen ziehen nicht recht in Europas Osten. Polens Grünen-Chefin Agnieszka Grzybek sagt später im Gespräch mit Harms leicht resigniert: „Wir stellen die richtigen Fragen, aber leider zur falschen Zeit.“

Harms kennt das mit den richtigen Fragen und der falschen Zeit. Abitur, als erste in der Familie, aber statt Uni Landkommune im Wendland. „Man brauchte nicht mehr im Leben als zwei Latzhosen, zwei Flanellhemden, einen Parka und eine Lederjacke. Wir waren die Verweigerer des vorgegebenen Weges“, sagt Harms.

IM WENDLAND FING ALLES AN mit Harms und der Politik. An einem Februarabend 1977 zwischen Bier und viel Tabakrauch im „Gildehaus“ in Lüchow. Ernst Albrechts Wirtschaftsminister Erich Küpker bestätigt, was bisher nur als Gerücht umherwabert: Atommüll soll nach Gorleben, Endlager am Zonenrand. „Du kannst gut Flugblätter schreiben!“ Mit diesen Worten schickt Gärtner Axel Beeker seine Auszubildende Harms in den Anti-Atom-Kampf. Es folgen Demos, die „Freie Republik Wendland“ und eine frühe Skepsis gegen klassische Politik. „Nicht wenige hatten immer den Eindruck, dass wir unser Ziel als Bürgerinitiative schneller erreichen können. Bis sich die Grünen als Partei etablieren würden, das schien uns zu langwierig“, sagt Harms vier Jahrzehnte später an einem Winterabend in Brüssel. Draußen rollt der Verkehr über die Avenue Waterloo. Weiter unten, in der Avenue Louise, liegen die schnieken Läden, drei Ecken weiter erinnert das afrikanische Viertel an Belgiens Geschichte als Kolonialmacht. Es passt wenig zusammen in Brüssel. Genau wie in Europa. Der Publizist Luuk van Middelaar hat der unruhigen EU jetzt in seinem neuen Buch vom „Kontinent zur Union“ die Heimat als Heilmittel empfohlen. Neben der stetig mobilen Generation Erasmus, die Europa als grenzenlosen Raum der Chancen begreift, gibt es jene, die Schutz suchen vor Euro, Regelwut und Globalisierung. Die Heimat soll den Verunsicherten einen Halt bieten. Heimat? Harms muss nicht lange überlegen. „Das ist der Ort, von wo ich komme. Da, wo ich die Menschen kenne. Meine Pappenheimer.“ Die Heimat riecht. „Nach Wald.“ Und die Heimat spannt ihren eigenen Bogen. „Dieser norddeutsche Himmel, der ein bisschen weiter ist als woanders.“

DER HIMMEL IN BRÜSSEL ist trist derzeit. Großbritannien geht. Am Morgen nach dem Votum steht Harms im Foyer des Europaparlaments und schildert, wie die britischen Abgeordneten durch ihr selbstbewusstes Auftreten das Selbstverständnis des Hauses prägten. Brüssel als interkulturellen Lernort, so lässt sich das auch sehen. 1984 kam Harms nach Brüssel; als Mitarbeiterin von Undine von Blottnitz in der Fraktion Regenbogen. „Das war eine dunkle Stadt“, schildert Harms ihren ersten Eindruck. Nach ihrer Zeit im niedersächsischen Landtag kehrt sie 2004 als Abgeordnete zurück, sechs Jahre später steigt sie zur Fraktionschefin auf. Atom und Klima – Harms bleibt ihren Themen treu. Und sie versucht, Europa seinen Osten näher zu bringen. 1988 nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kommt sie zum ersten Mal in die Ukraine – damals noch Sowjetrepublik. „Die wollten Veränderung. Und zwar zum Guten“, sagt Harms. Diese Herzlichkeit zieht sie in Bann. Immer noch. Harms ist aufgewachsen „am Zaun“. Grenzlandeuropäer nennt der Historiker Karl Schlögel das. Für Harms ist der Osten mehr als nur Hinterland. Bis heute geblieben. Harms reist viel. Polen, Estland, Lettland, Tschechien, Ungarn. Und immer wieder die Ukraine. Es geht um Klima, Atomenergie – und die Zivilgesellschaft. Für die Medien in Deutschland ist sie die ewige Aktivistin geblieben. „Die Widerspenstige“ notiert die Welt, „Die Straßenkämpferin“, die taz und der Historiker Götz Aly wähnt sie in der Frankfurter Rundschau ewig auf den Barrikaden.

Dabei ist Harms längst runter von den Barrikaden. Nicht alle können folgen. Auch deshalb zog sie sich im Dezember von der Fraktionsspitze zurück. Die Fraktion wollte mehr poltern. Harms mehr walten. Es ist das alte grüne Leid. Fundamentale Opposition oder Machbares umsetzen. Harms hat sich entschieden.

Für den Gegenspin. Ministerin im engen Niedersachsen? Dann lieber die Weite Brüssels. Einhegende Fraktionsführung in Brüssel? Dann lieber die Freiheit der Herzthemen im Osten. Rebecca Harms, gerade 60, ist Verweigerin des vorgegebenen Weges geblieben.


Das Porträt erschien in der Landluft. Wendland Magazin. Die Zeitschrift mit allen Beiträgen kann man >hier bestellen.  

DER TEXT IST VON PETER RIESBECK VERFASST.
JÜRGEN OLCZYK (FOTO)  

 


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