Die letzte Sitzung des Europäischen Parlamentes im Jahr
2016 war sehr stark bestimmt von der Verleihung des Sacharow
Preises. Nicht nur die Preisträgerinnen, die Jesidinnen
Nadia Murad und Lamiya Aji Bashar, waren nach
Straßburg gekommen, auch die beiden anderen
Nominierten der Shortlist besuchten das Parlament und
sprachen mit uns über ihre Anliegen.
Die jesidischen
Preisträgerinnen, die der mörderischen Verfolgung
und Versklavung entkommen konnten, leisteten allein an den
Tagen in Straßburg Übermenschliches durch ihre
tapferen Reden und ihren Kampf um Wahrnehmung und Wahrheit,
um Rettung für die Jesiden vor einem Genozid. Allen in
Straßburg wurde zum Ende dieses Jahres noch mal die
Brutalitäten der Kriege und Verheerungen im Nahen und
Mittleren Osten bewusst. Geradezu mit Händen zu greifen
war im Plenarsaal auch das Wissen darum, wie weit die
Erfordernisse aller Verfolgten und Flüchtlinge in der
ganzen Region und die europäische Hilfe
auseinanderliegen. Die Rede von Lamiya Aji Bashar bei der
Preisverleihung trieb manchen Abgeordneten die Tränen
in die Augen. Sie sollte weiter gehört werden
(Link zu Lamiyas
Rede).
Auch die Nominierten der Shortlist, der türkische
Journalist Can Dündar und der langjährige
Vorsitzende des Parlamentes der Krimtartaren, Mustafa
Dzhemiliev, waren nach Straßburg gekommen. Can
Dündar lebt heute im Exil, weil er über
Waffenlieferungen aus der Türkei an den IS in einer
Fernsehreportage berichtet hat, gestützt auf
Filmbilder, die diese Lieferungen belegen. Auf Can
Dündar wartet deshalb in der Türkei ein
Haftbefehl. Er muss mit einer unerbittlichen Haftstrafe
rechnen, weil er seine Arbeit als Journalist gemacht hat.
Nachdem er bereits monatelang im Gefängnis war, hat er
sich für das Exil entschieden. Seiner Frau wurde
inzwischen der Pass abgenommen. Sie ist eine der Geiseln der
türkischen Regierung aus Familien von Journalisten, die
von der türkischen Justiz gesucht werden. Allein das
macht das Exil sehr bitter. Ohnehin ist das Exil für
Journalisten nicht einfach. Im Gespräch mit Can
Dündar wurde mir noch einmal bewusst wie schwer es
für ihn ist, jetzt nur von außen zum
Rückfall der Türkei in einen autoritären
Staat schreiben zu können. Und wie bedrohlich es ist,
dass die EU sich von der Türkei abwenden könnte
während Putin zum Vorbild und Verbündeten Erdogans
wird.
Mustafa Dzhemilevs persönliche Geschichte hat uns noch
einmal den Namensgeber des Menschenrechtspreises nahe
gebracht. Es war Sacharow, der Mustafa Dzhemilev aus dem
sowjetischen Gefängnis befreit hat. Die beiden waren
Freunde. Mustafa hat als Dissident das Ende der Sowjetunion
erlebt. Er hat sein von der Krim deportiertes Volk mit
zurück in die Heimat auf der Halbinsel Krim gebracht.
2014 wurde die Heimat der Tartaren von russischen Truppen
besetzt. Heute ist das Parlament der Tartaren wieder
verboten. Die Tartaren haben das Recht verloren, sich zu
organisieren. Wer sich widersetzt und für die Rechte
der Tartaren oder auch der Ukraine eintritt, macht sich
strafbar. Hausdurchsuchungen, inszenierte Gerichtsverfahren,
Gefängnis- und Lagerstrafen sind wieder alltäglich
auf der Krim. Etliche Krimtartaren sind in den letzten
Jahren spurlos verschwunden. Dzhemilevs eigener Sohn kam
erst vor kurzem aus russischer Haft frei. Ein UN Bericht
bestätigt die Schwere der
Menschenrechtsverstöße auf der Krim. Mustafa
Dzhemilev ist ein bescheidener Mann, beeindruckt mit einem
ganzen Leben, das der Freiheit nicht nur für die
Tartaren gewidmet ist.
Die Sacharow Preistägerinnen haben uns an unsere
Pflicht und Schuldigkeit gegenüber den Jesiden, aber
auch gegenüber anderen Verfolgten und Vertriebenen
erinnert. Gemeinsam mit den Nominierten haben sie uns zum
Ende des Jahres mit den großen Herausforderungen
für uns Europäer konfrontiert.
> Alle Reden anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises 2016