> Hier geht es zum SZ-Artikel vom 3. Juni 2014
Von Thorsten Denkler
Cameron droht mit dem EU-Austritt der Briten? Dann soll er endlich sein Volk abstimmen lassen, findet Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament. Im Interview signalisiert sie Unterstützung für den Christdemokraten Juncker - und warnt Kanzlerin Merkel.
Rebecca Harms, 57, war - diesmal zusammen mit Sven Giegold - zum dritten Mal in Folge Spitzenkandidatin der deutschen Grünen für die Europawahl. Sie ist Fraktionschefin im Europäischen Parlament und stammt aus der Anti-Atom-Bewegung im Wendland, die sich vor allem gegen ein Atommüllendlager in Gorleben stemmt.
SZ.de: Frau Harms, der britische Premier David Cameron soll mit dem Austritt der Briten aus der EU gedroht haben, sollte Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident werden. Was ist Ihre Botschaft an Cameron?
Rebecca Harms: Wenn sich Cameron nicht irgendwann traut, das Referendum über das Verhältnis zur EU zu machen, dann wird das zur leeren Drohung. Das Referendum ist seit langem angekündigt. Wenn die Briten unbedingt raus wollen aus der EU, dann sollten wir sie ziehen lassen. Es darf keine Mitgliedschaft um jeden Preis geben.
Kann die EU auch ohne Großbritannien?
Für die EU ist es besser, wenn die Briten bleiben. Auch für die Briten ist es besser, wenn sie in der EU bleiben, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Wenn ich mir aber die antieuropäische Politik von Cameron in den vergangenen Jahren anschaue, dann ist es angebracht, dass die Briten diese Frage mal grundsätzlich entscheiden. Drohungen helfen nicht weiter. Manche scherzen böse, dass wir dann bald mit Schottland um den EU-Beitritt verhandeln.
Die Grünen kämpfen dafür, dass der konservative Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident wird. Was schätzen Sie plötzlich so an ihm?
Es geht jetzt nicht nur um Jean-Claude Juncker. Wir kämpfen dafür, dass nach der Wahl das gilt, was die Mehrheit im Europäischen Parlament vor der Wahl gesagt hat: Der Kandidat, der die stärkste Fraktion hinter sich und eine Mehrheit im Parlament hat, soll Präsident der EU-Kommission werden. Der nächste Präsident soll nicht wieder in erster Linie der Kandidat der Regierungschefs im Europäischen Rat sein. Wir brauchen einen Kommissionspräsidenten, der sich dem Parlament und damit den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet fühlt. Und Juncker hat nun mal mit den Christdemokraten die größte Fraktion im EU-Parlament hinter sich.
Kanzlerin Angela Merkel hat sich immer noch nicht eindeutig auf Juncker festgelegt. Ist das pragmatisch oder feige?
Sie hat sich doch auf dem Katholikentag für Juncker ausgesprochen. Dahinter darf sie nicht zurück. Aber ihr Hin und Her in den Tagen davor war schon peinlich.
Merkel sagte, die Gespräche liefen "im Geiste", dass Juncker Präsident werden "sollte". Nehmen Sie das als so klar wahr? Andere haben den Eindruck, Merkel habe sich mit ihrer Formulierung eine Hintertür offengehalten.
Sie ist natürlich eine Europameisterin der interpretationsfähigen Formulierung. Aber dennoch: Merkel darf Juncker nicht fallenlassen. Sie hat ihn zum Spitzenkandidaten ihrer Parteienfamilie gemacht. Ihre Fraktion im Europaparlament hat sich hinter Juncker gestellt. Merkel muss aufpassen, dass sie es mit ihrer Taktiererei nicht überzieht.
Werden die Grünen Juncker wählen, wenn der Rat ihn vorschlägt?
Das werden wir entscheiden, wenn wir ihn und seine politischen Vorstellungen für die kommenden fünf Jahre gehört haben. Es geht ja auch noch um Inhalte. Es wäre klug, wenn Herr Juncker versuchen würde, sich im Parlament auf eine möglichst breite Mehrheit zu stützen.
Die europäischen Verträge sagen: Der Rat macht einen Vorschlag, das Parlament muss zustimmen. Das Wahlergebnis muss vom Rat lediglich berücksichtigt werden. Bricht nicht das Parlament gerade diese Regeln?
Es ist richtig gewesen, in dieser Frage vorzupreschen, um den Staats- und Regierungschefs klarzumachen, dass das Parlament den Wählerwillen respektiert. Die europäische Demokratie braucht Politiker, die sich gegenüber den Bürgern verantworten. Nur so kann der gefühlte tiefe Graben zwischen Bürgerinnen und Bürgern hier und in Brüssel flacher werden.
Die Grünen haben sich auch schwergetan mit ihren europäischen Spitzenkandidaten. Ska Keller, obwohl Deutsche, fand und findet in Deutschland kaum statt. Plakatiert wurden, wenn überhaupt, Sie und Ihr Co-Spitzenkandidat Sven Giegold.
Wir stehen zu der Idee von europäischen Spitzenkandidaten der jeweiligen Parteienfamilien und Ska Keller hat mit mir, Sven Giegold und anderen Spitzenkandidaten nicht nur in Deutschland Kampagne gemacht. Wir haben in Deutschland gerade bei den Plakaten sehr viel stärker auf Inhalte als auf Personen gesetzt. Unsere Chance auf das Amt an der Spitze der Kommission war ja auch nicht die beste.
Zum Schluss noch ein Satz zum gefühlten Rechtsruck in manchen Ländern: Ist es nicht geradezu ein Wunder, dass die Rechten doch eher bescheiden abgeschnitten haben? Angesichts der Größe der Krise, der Verunsicherung und der tatsächlichen Not vieler Menschen vor allem in den südlichen Ländern der EU gab es ganz andere Erwartungen.
Es ist erschreckend, wie der Zulauf zu rechten Parteien gewachsen ist. Das sollte niemand auf die leichte Schulter nehmen. Die proeuropäischen Parteien müssen aufhören, sich soft-national zu geben, um den Populisten und Nationalisten zu begegnen. Die CSU hat dafür die Quittung bekommen. Und Martin Schulz hätte auch sagen können, ein Sozialdemokrat müsse Präsident der Kommission werden. Stattdessen plakatierte er, ein Deutscher müsse Kommissionspräsident werden. Wer den Nationalisten Zucker gibt, der sorgt dafür, dass die Rechte die Ernte einfährt. Es muss darum gehen, die europäische Politik gerecht und nachvollziehbar zu machen.