Die Türkei steht zur Zeit im Zentrum der europäischen Debatten.
Diskutiert wird einerseits über Lösungsversuche in der Flüchtlingskrise. Das hat reale Gründe. Fluchtrouten kreuzen sich in der Türkei und haben in den vergangenen Jahren Millionen Menschen ins Land geführt. Mehrere Millionen Syrer sind dort geblieben. Die Debatten drehen sich aber andererseits auch um die Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses zwischen der EU und der Türkei und die Auseinandersetzung um die Abkehr der Türkei von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
Kritik an der aktuellen Politik der Türkei ist unbedingt notwendig. Trotzdem wird es der EU nicht möglich sein, ohne eine Verständigung mit der Türkei bessere Lösungen für Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, zu finden. Forderungen, die Zusammenarbeit mit Ankara wegen des Kurses von Präsident Erdogan und der Regierungspartei, AKP, per se abzulehnen, würde die EU angesichts so vieler Menschen, die die Flucht in die Türkei gebracht hat, nicht durchhalten können. Schon allein wegen der geographischen Lage, der Situation der Flüchtlinge und auch wegen des andauernden Krieges in Syrien wird es ohne die Zusammenarbeit mit der Türkei nicht gehen.
Das heißt nicht, dass die Abmachungen mit der Türkei kritiklos hingenommen werden dürfen. Im Gegenteil. Die EU ist verpflichtet gerade wegen der Vereinbarungen mit der türkischen Regierung dafür zu sorgen, dass die Umsetzung nicht gegen unsere Prinzipien und die Rechte der Menschen auf der Flucht verstoßen. Die Vorwürfe von Amnesty International, die von Beobachtern vor Ort immer wieder unterstützt werden, wonach syrische Flüchtlinge illegal zurück nach Syrien gezwungen werden, sind schwerwiegend. Werden sie nicht widerlegt, ist das ein weiterer Grund, das geschlossen EU-Türkei-Abkommen in Zweifel zu ziehen. Eine grundsätzliche Schwäche des Abkommens liegt darin, dass die Zahl der Syrien-Flüchtlinge, die direkt aus der Türkei in Europäische Union geholte werden soll, viel zu gering ist. Solange die EU nicht deutlich mehr Flüchtlingen einen legalen Wege in die EU ebnet, wird das Ziel, die sogenannte irreguläre Flucht in sichere Bahnen zu lenken, nicht erreicht werden. Es wäre das Mindeste, der Forderung des UN-Flüchtlingshilfswerkes Folge zu leisten, 500.000 Syrienflüchtlinge in den nächsten zwei Jahren in die wohlhabenden Staaten der Welt zu holen.
Die EU hat aber nicht nur eine Verantwortung für den Teil der Abmachung, der in der Türkei umgesetzt wird. Die humanitäre Notlage in Flüchtlingslagern und improvisierten Camps wie in Idomeni und auf griechischen Inseln, muss beendet werden. Kein Flüchtling darf ohne ein faires und rechtmäßiges Asylverfahren in die Türkei zurückgeschickt werden. Flüchtlinge dürfen in der EU nicht hungern oder unter Mangelernährung leiden. Die Berichte aus Griechenland zeigen, dass die Mitgliedsstaaten der EU ihre Zusagen nicht erfüllen und nicht ausreichend zur Verbesserung der Situation der Flüchtlinge beitragen. Zentrale Normen zum Schutz von Flüchtlingen werden verletzt. Das sinnvolle Streben nach einer Ordnung an den EU-Außengrenzen darf nicht zu Lasten des Rechts gehen. Die Idee von Bundesinnenminister de Maiziere, wir müssten uns eine Weile mit schlimmen Bildern aus Griechenland abfinden, da diese Bilder vom Weg nach Europa abschreckten, ist nicht akzeptabel. Wer so denkt zeigt, dass es ihm nicht um eine neue verantwortliche Flüchtlingspolitik geht. Ich bleibe dabei: Europäische Staaten müssen in Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingswerk UNHCR mehr Menschen direkt aufnehmen. Diesen entscheidenden Schritt müssen wir machen, um unserer Verantwortung gerecht zu werden.
Vorschläge für ein gemeinsames europäisches Asylrecht liegen vor. Und angesichts der wachsenden Zahl von Flüchtlingen weltweit steht für mich fest, dass wir eine gemeinsame Asylgesetzgebung dringend brauchen. Die EU hat die gemeinsamen Außengrenzen bisher nicht als gemeinsame Aufgabe angesehen. Das war falsch. Der Aufbau einer Ordnung an den Grenzen, die auf rechtsstaatlichen Prinzipien fußt, kann nicht der Türkei anvertraut werden. Die EU muss um die Freiheit nach innen garantieren zu können, diese Aufgabe als eine der großen Prioritäten angehen.
Unabhängig von den Herausforderungen der Flüchtlingskrise muss die EU zu einer zuverlässigen Politik gegenüber der Türkei zurückkommen. Seit der Wiederwahl von Präsident Erdogan erleben wir eine systematische Abkehr von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Kurs gegen regierungskritische Medien und Journalisten wird immer unerbittlicher. Kritiker des Präsidenten werden zu Staatsfeinden und Terroristen erklärt. Zeitungshäuser und Medienunternehmen werden regelrecht besetzt und ihre Mitarbeiter durch regierungstreue Journalisten ersetzt. Das Vorgehen gegen die Journalisten findet inzwischen seine Fortsetzung Im Umgang mit Akademikern und Intellektuellen, die wegen Friedensappellen vor Gericht stehen. Präsident Erdogan hat allein um die Oppositionspartei HDP zu schwächen, bewusst den Konflikt mit der PKK eskaliert. An vielen Orten im Südosten des Landes herrscht wieder Bürgerkrieg mit sehr vielen Toten.
In den vergangen Jahren hat sich die EU aus einer verantwortlichen Politik gegenüber der Türkei heraus gestohlen. Wenn nun die Verhandlungen mit der Türkei wiederbelebt werden, dann muss es dabei zentral um die Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte gehen. Die Opposition in der Türkei erwartet nicht, dass die EU sich von der Türkei unter Präsident Erdogan abwendet. Denn das wäre auch eine Abkehr von ihnen. Die Opposition erwartet vielmehr, dass die EU sich engagiert und dabei die demokratischen Ziele nicht aus den Augen verliert.
Anders als viele Kommentatoren, bin ich nicht der Meinung, die EU stehe der Türkei machtlos gegenüber und sei den Forderungen Erdogans ausgeliefert. Die Stärke der EU hängt allerdings von der Ausgestaltung ihrer Politik ab. Die Türkei steckt auch wegen der schlechten Politik Erdogans in einer wirtschaftlich und politisch prekären Lage und braucht die Zusammenarbeit mit der EU. Wenn die EU gemeinsam und zuverlässiger handelt kann sie auch wieder Einfluss auf die Entwicklungen in der Türkei erlangen.
P.S. In der Affaire um Jan Böhmermann folge ich dem Satz von Kurt Tucholsky, Satire darf alles. Ich erwarte, dass es uns, trotz aller berechtigten Kritik am bisherigen Vorgehen der Bundesregierung und der Kanzlerin aber auch des ZDF, gelingen wird, unsere Presse- und Meinungsfreiheit zu verteidigen. Schwieriger bleibt für mich die Frage, wie können wir den türkischen Journalisten besser helfen, mit deren vielen Schreckensgeschichten wir immer wieder konfrontiert sind.