Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#türkei    14 | 11 | 2016
Blog

Schweigt nicht über diese Ereignisse in der Türkei. Nennt sie beim Namen

Mein Besuch in der Türkei vom 31.10 bis 1.11.2016
 
Seit dem Sommer, seit dem Putschversuch in der Türkei, haben immer wieder Delegation des türkischen Parlaments Brüssel besucht.  Ich habe diese Delegationen getroffen. Und ich habe mich darum bemüht, dass auch umgekehrt eine Delegation im Namen des Europäischen Parlamentes Ankara besucht. Da das bisher nicht so geklappt hat, wie ich es für angemessen halte, habe ich mich entschieden allein zu reisen. Die Vertreter aller Fraktionen, die ich in Brüssels traf, begrüßten meine Initiative. Forciert wurde mein Entschluss auch durch die immer neuen Verhaftungswellen gegen Journalisten und Kritiker der Regierung.
 
Der Tag meiner Ankunft war einer  der schwarzen Tage für die Medien- und Pressefreiheit in der Türkei. In den Morgenstunden war Murat Sabuncu, Chefredakteur der letzten unabhängigen und regierungskritischen Zeitungen Cumhuriyet zusammen mit anderen Journalisten, Kolumnisten und Karikaturisten der Zeitung verhaftet worden. Ich war an diesem Tag mit Murat verabredet gewesen. Als ich am Sitz von Cumhuriyet im Sisle Viertel ankam, hatten sich vor dem Gebäude einige Hundert Menschen zum Protest versammelt. Alle die dorthin gelangen wollten, mussten durch Polizeisperren. Im Gebäude selber wimmelte es von Besuchern. Ich sprach mit Redakteuren und Sekretären und auch mit Ehefrauen von Verhafteten. Die  Gespräche waren bestimmt vom großen Erschrecken über den Schlag gegen die letzte größere Oppositionszeitung. Die Botschaft der Pressekonferenz durch den Sprecher der Stiftung der Zeitung war jedoch unerschütterlich und unmissverständlich: Die Wahrheit zu sagen ist kein Verbrechen. Cumhuriyet wird weiter erscheinen!

Der Mut und die Entschlossenheit hinter dieser Botschaft wurden mir auch in meinen folgenden Treffen mit Anwälten und Journalisten, die ich hier nicht namentlich erwähne, entgegen gebracht. Trotz ihrer bedrohlichen Lage sehen sie sich in der Pflicht in der Türkei zu bleiben, um sich vor Ort für ihre inhaftierten und angeklagten Kollegen einzusetzen.  Zusammen mit Pen International macht beispielsweise die türkische Internet-Platform P24 eine Kampagne zur Freilassung weltweit renommierter Schriftsteller und Journalisten. Sie werben für Unterstützung insbesondere für die Inhaftierten, die zum Teil älter und schwer erkrankt sind (http://platform24.org/en/). Eine internationale Ärztegruppe hatte jüngst versucht, die Schriftstellerin Asli Erdogan im Gefängnis mit Medikamenten zu versorgen, die ihr dort vorenthalten werden. Die Initiative ist bisher leider gescheitert. Mein Besucherantrag für Asli Erdogan wurde abgelehnt. Etliche der prominenten Autoren haben kaum Anrecht auf Besuche und selbst der Kontakt zu Anwälten ist nur sehr eingeschränkt erlaubt. Die Brüder Altan werde als Drahtzieher des Coups beschuldigt. Ihnen drohen mehrfach lebenslängliche Gefängnisstrafen.

Von all diesen Gesprächen habe ich die eine wichtige Forderung mitgenommen: Schweigt nicht über diese Ereignisse in der Türkei. Nennt die Dinge beim Namen. Denkt nicht nur an den Einfluss auf Erdogan. Denkt daran, dass die, die im Gefängnis landen, die ihre Pässe verlieren oder steckbrieflich gesucht werden, hoffen, dass aus der EU auf Rechtsstaatlichkeit gedrungen wird. Die Leute, die sich in ihrem Einsatz für Demokratie einsetzen, tun das im Vertrauen auf uns in der EU.
 
Von Istanbul reiste ich weiter nach Ankara, um mich dort mit allen Fraktionsvorsitzenden des türkischen Parlamentes zu treffen. Die Fraktionen CHP, HDP und MHP hatten zugesagt, nicht aber die AKP und ihre Minister, obwohl diese seit dem Coup bei allen Treffen am meisten auch auf mein Kommen gedrungen hatten. Der CHP Vorsitzende Kılıçdaroğlu bestätigte die besorgten Stimmen aus Istanbul, dass die Festnahme der Cumhuriyet Journalisten und der beiden Bürgermeister von Diyarbakir eine weitere schlimme Verschärfung des Vorgehens gegen Opposition und kritische Medien bedeuteten. Er hatte sich am Tag der Festnahmen fast wortgleich wie die Vorsitzenden der HDP geäußert. Das ist schon deshalb positiv, weil die CHP der Aufhebung der Immunität der HDP Abgeordneten nach dem Putschversuch zugestimmt hatte. Zu meinen  Fragen zu den Türkeibeitrittsverhandlungen äußerten sich die Vorsitzenden beider Fraktionen ähnlich. Gerade wegen der Erfahrungen mit Erdogan seit dem fehlgeschlagenen Coup sei es richtig, die Kapitel 23 und 24 zu Justiz, Grundrechten und Freiheit zu eröffnen. Das  Gespräch mit Selahattin Demirtas ist mir immer wieder durch den Kopf gegangen. Ich weiß nicht ob, er zum Zeitpunkt unseres Gespräches seine bevorstehende Festnahme zwei Tage später geahnt hat. Er war sehr nachdrücklich. Die größte Bedrohung für Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sei das von Präsident Erdogan inszenierte ‚Medienembargo‘, wie er es nannte. Es sei wichtig klar zu machen, dass Menschen den Eindruck bekommen es gäbe keine andere Meinung als die des Präsidenten und seiner Unterstützer, weil andere Meinungen eben nirgends mehr veröffentlicht werden. Die HDP habe, seit auch die letzten kleinen kurdischen Medien geschlossen wurden, gar keinen Zugang zur Presse. Wir sollten es uns in der EU nicht zu einfach machen in der Frage, wie stark die Unterstützung für Erdogan sei. Sie sei stark aber bei weitem nicht alle Türken stünden hinter ihm.

In meinem dritten Gespräch, traf ich  den Vize Vorsitzenden der MHP. Dieser verteidigte die Massenverhaftungen als Einziger offensiv, obwohl selbst Leute aus seiner Partei ihres Amtes enthoben und inhaftiert wurden. Erdogans Vorgehen würde dafür sorgen, dass die Verantwortlichen des Putschversuchs gefunden und verurteilt werden könnten. Die Türkei müsse durch diesen Prozess der Aufklärung und Bestrafung hindurch. Wer unschuldig sei, werde das beweisen können. Überraschenderweise sprach sich Vize Vorsitzender Günal nicht für das von Erdogan gewollte präsidentielle System in der Türkei aus.
 
Was auch immer zurzeit gefordert wird, es scheint fast aussichtslos auf Präsident Erdogan Einfluss zu nehmen. Die Europäer müssen trotzdem eindeutig sein in der Kritik an der türkischen Regierung. Die EU und die deutsche Regierung, die in der Türkei eine besondere Rolle spielt, sollten alle ihre Entscheidungen auch unter dem Aspekt treffen, dass Gespräche weiter möglich sein müssen. Auch wenn es den Einfluss nicht gibt, den man sich wünscht, muss der Dialog fortgeführt werden. Denn Sprachlosigkeit wäre zum Schaden der vielen Inhaftierten und Verfolgten, die unsere Unterstützung verdient haben und die ihre Hoffnung auf Europa richten. Wer jetzt das Ende der Verhandlungen mit der Türkei fordert, muss sich darüber im Klaren sein, dass Europa damit auch die Opposition und Dissidenten träfe. Eine Suspension der EU-Türkei Verhandlungen ohne Klärung von Alternativen und Perspektiven ist gewagt.

Die Position der Opposition zum Visaabkommen zwischen EU und Türkei ist unterschiedlich. Die einen sehen es klar als Geschenk an Erdogan. Andere halten Reisefreiheit in die EU für ausgesprochen wichtig. Zwei Forderungen aber sind klar: Das Visaabkommen darf nur unterzeichnet werden, wenn die Türkei die damit verbundenen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit erfüllt und die Anti-Terror Gesetze ändert. Die Aufhebung der Visumspflicht darf nicht an das Flüchtlingsabkommen gebunden sein. Auch das Flüchtlingsabkommen hat aus Sicht der Türken verschiedene Facetten. Die Türken mit denen ich gesprochen habe sind sich einig, dass die EU mehr Flüchtlinge aufnehmen muss und kann. Die erstarkende Abwehrhaltung in Europa trifft bei Ihnen auf Unverständnis. In der Türkei ist man sich im Klaren darüber, dass die 3.1 Millionen Flüchtlinge, die heute in der Türkei sind, zum Großteil auf unabsehbare Zeit bleiben werden. Es gibt Berichte von schrittweisen Verbesserungen der Lage der Flüchtlinge. Mehr Flüchtlinge gehen zur Schule, nach und nach werden sie in das türkische Gesundheitssystem aufgenommen. Ab Januar wird es Geldkarten geben. Es gab aber auch die klare Forderung, dass die EU Menschenrechtsverstöße gegen Flüchtlinge aus Syrien und Irak nachgehen muss. Aus meiner Sicht sollten keine Flüchtlinge mehr aus der EU in die Türkei zurück geschickt werden und das Verfahren zum Resettlement von Flüchtlingen aus der Türkei in die EU ehrgeizig vorangetrieben werden. Die Schwäche der EU liegt darin, dass die Mitgliedsstaaten nicht genügend Menschen aufnehmen.

Mit nach Brüssel nehme ich konkrete Forderungen der vielen mutigen Journalisten, Bürger und Oppositionellen: Es sollen Besuchsanträge gestellt werden für diejenigen, die in Haft sind. Unbedingt gewollt wird die Anwesenheit bei den Gerichtsterminen. Es sei wichtig zu versuchen, Öffentlichkeit für die laufenden und kommenden Gerichtsverhandlungen zu schaffen. Wenn schon die türkische Presse nicht unabhängig berichte, dann müssten internationale Beobachter und ausländische Journalisten dies tun. Ich  habe in meinen Gesprächen in Istanbul verabredet, die Solidaritätskampagne von P24 (http://gruenlink.de/1alj) für diejenigen, die auf Grund ihres Engagements für Pressefreiheit und Vielfalt nun in türkischen Gefängnissen sitzen, in Brüssel und anderen EU Hauptstädten aufzugreifen. Wir werden so rasch wie möglich anknüpfend an die Resolution zur Pressefreiheit des Europäischen Parlaments und dazu Veranstaltungen in Brüssels und Berlin organisieren.
 


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