Ein Interview des türkischen Nachrichtenportals AHVAL News mit Rebecca Harms zur Lage in der Türkei. Die Fragen stellte Mahra Özdogan (MÖ) Ende letzten Jahres, das Interview erschien auf türkisch online.
MÖ: Sie sind eine Person, die die Schikane und rechtswidrigen Handlungen, die derzeit in der Türkei geschehen, aus der Nähe betrachten. In den sozialen Medien gehen Sie regelmäßig auf diese Themen ein. In einer Rede im Europäischen Parlament im Juli dieses Jahres, haben Sie die kollektiven Verfolgungen in der Türkei mit denen des Nationalsozialismus verglichen. Wieweit würden Sie mit ihrem Vergleich gehen?
RH: Ich habe mich seit meiner Schulzeit mit der Geschichte Deutschlands beschäftigt. Immer wieder. Für Nationalsozialismus und Faschismus, für den Holocaust, für zwei Weltkriege und große Verheerungen trägt meine Nation, tragen wir Deutschen eine Verantwortung, die in das heute und in die Zukunft reicht. So unerträglich ich die Entwicklung in der Türkei finde, würde ich das nicht einfach mit dem Nationalsozialistischen Deutschland gleichsetzen. Die Gleichsetzungen gehen fast immer schief. Aber was ich aus der deutschen Geschichte für die Türkei von heute lerne ist, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte außer Kraft sind, wenn wie in der Türkei von heute Tausende von Menschen ihre Arbeit verlieren, ihr Vermögen beschlagnahmt wird und wenn sie ins Gefängnis geworfen werden, weil sie zu einer Organisation gehören oder weil behauptet wird, dass sie oder Familienmitglieder zu einer Organisation oder Bewegung gehören. Gegen diese politisch motivierte Massenverfolgung und die Massenverhaftungen muss die ganze demokratische Welt Stellung beziehen. Denn damit wird nicht die grausame Nacht des Putsches aufgeklärt, was ich weiter für unbedingt notwendig halte. Mit der Massenverfolgung sollen Angst und Schrecken verbreitet werden und politische Gegner bekämpft werden.
MÖ: Es gibt viele Stimmen in der EU, die die Reaktionen auf die Politik Erdogans für unzureichend betrachten. Es wurde erstmalig beschlossen, aus politischen Gründen, europäische Fördergelder teilweise zu kürzen. Kann man hier noch weitere Schritte erwarten? Könnte es wirtschaftliche Sanktionen geben?
RH: Die Auseinandersetzung darum, wie wir Einfluss nehmen können auf das Handeln von Erdogan, auf die Regierung und die AKP ist schwierig. Es wäre wichtig, eine einheitliche Haltung und Linie der Europäischen Union zu finden. Die bisherigen Reaktionen aus der EU haben keine wirkliche Veränderung gebracht. Das Europäische Parlament fordert die Suspendierung der Beitrittsverhandlungen, wenn das Verfassungs-Referendum in der Türkei umgesetzt wird, Ich denke, dass wir im Europäischen Parlament mit dieser Abstimmung eigentlich die richtige Entscheidung getroffen hat. Auch wenn viele meiner Freunde in der Türkei darauf erschrocken und kritisch reagiert haben. Wir mussten klar machen, dass die veränderte türkische Verfassung unvereinbar wird mit den Beitrittsverhandlungen. Und wir haben schon lange von der Europäischen Kommission gefordert, nicht durch europäische Gelder, die an die Beitrittsverhandlungen geknüpft sind, die heutige Politik von Präsident Erdogan zu stärken. Es ist nicht einfach Erdogan klare Grenzen zu ziehen und gleichzeitig den Demokraten und Verfolgten in der Türkei beizustehen. Für mich bleibt eine Möglichkeit, die Verhandlung um die Zollunion mit klaren Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit zu verbinden. Nur mit dieser Verknüpfung darf überhaupt verhandelt werden. Das größte Interesse, das der türkische Präsident an der EU hat, das ist eindeutig wirtschaftliches Interesse. Das muss die EU in ihrem weiteren Vorgehen in die Waagschale werfen.
MÖ: EU Innenkommissar Dimitri Avramopoulos letztens gesagt, dass die Verhandlungen mit der Türkei über die Visafreiheit kurz vor der Endgeraden stehe. Wie sehen Sie das in Bezug auf die Streichungen von Fördergeldern?
RH: Da bin ich ganz anderer Meinung. Ich habe mir immer gewünscht, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Türkei und nicht nur die Elite frei und einfach in die EU reisen können. Und ich erlebe gerade in Osteuropa, wie wichtig das real und emotional für den Zusammenhalt zwischen der EU und den Nachbarländern ist. Es ist sehr bitter, dass die Visaliberalisierung mit der Türkei nicht vorankommt. Aber die Bedingungen, die das Europäische Parlament fordert, sind nicht erfüllt.
Mir hat der Abriss der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei immer wieder den Atem verschlagen. Ich habe etliche Freunde, die im Gefängnis sind. Auch viele Familienangehörige der Opfer der Massenverfolgung wenden sich an mich, Anwälte informieren mich über ihre Fällen aus der Türkei. Ich habe mir einige der Anklageschriften angeguckt und festgestellt, dass viele der Anklageschriften ausgesprochen zweifelhaft sind und schon für die teilweise viele Monate andauernde Untersuchungshaft keinesfalls ausreichen. Die Zahl der inhaftierten Staatsanwälte und Richter, der Druck auf Rechtsanwälte und ihre Organisationen werden von europäischen Anwalts- und Richtervereinigungen immer wieder scharf kritisiert. Von Rechtsstaatlichkeit und auch von Presse-und Meinungsfreiheit kann man in der Türkei schon lange nicht mehr reden. Ich habe große Zweifel am bisherigen Vorgehen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die bisherige Zurückverweisung der Fälle aus der Türkei an die türkische Justiz muss ein Ende haben. Der EGMR muss sich zumindest der eklatantesten Fälle endlich annehmen und auch Urteile sprechen. Es beunruhigt mich tief, dass wir von vielen Männern und Frauen wissen, dass sie unter sehr schlechten Bedingungen in Haft sind und dass etliche sehr schwer krank sind.
MÖ: Es gibt, grob aufgeteilt, zwei Ansichten darüber, ob und wie die EU ihre Beziehungen zur Türkei weitgehend einstellen soll. Die einen sagen, dass, wenn man die Beziehungen einfriert, es zur Isolation des Landes und damit zu einer Bestrafung der Bevölkerung kommt. Die anderen sagen, es fehlt bereits an der Rechtsstaatlichkeit und die politische Isolation, könnte zur Mobilisierung der Gesellschaft führen. Wie muss die EU handeln, um dem türkischen Volk bestmöglich zur Seite stehen zu können?
RH: Die EU muss bei all ihren Entscheidungen im Kopf haben, dass sie sich einerseits kritisch mit Erdogan auseinander setzen muss, aber gleichzeitig eine Verantwortung hat für all die Türkinnen und Türken, die sich auf die EU auch als Verteidigerin ihrer Interessen und ihrer Sicherheit verlassen. Und die fürchten, dass eine völlige Abkehr der EU die Situation nur noch verschlechtern würde.Das bedeutet immer wieder Abwägungen.
MÖ: Sie meinten gerade, dass sie Zweifel an den letzten Entscheidungen des Europarats und des EMGR hatten. Was waren denn ihre Zweifel in diesen Fällen?
RH: Nehmen sie die Fälle von Selahatin Demirtas und anderen demokratisch gewählten Abgeordneten der HDP, nehmen sie die Fälle von Ahmet und Mehmet Altan oder Nemirje Illicak, Ahmet Turan Alkan, Aysenur Parildak oder Şahin Alpay, den Cumhuriyet Prozess oder Deniz Yücel, Menschenrechtler wie Taner Kilic oder Osman Kavala. Es gibt so viel mehr Fälle, die zeigen, dass innerhalb der türkischen Justiz für die politisch Verfolgten keine gerechten Verfahren oder Urteile zu erwarten sind.
MÖ: Laut der Bildzeitung, hat Erdogan für die Auslieferung von zwei ehemaligen türkischen Generälen die Freilassung von Deniz Yücel angeboten. Die Bild beruft sich hier auf angebliche diplomatische Quellen. Die Definition so einer Tat ist Geiselnahme. Wie bewerten Sie das?
RH: Ich kann dazu nur sagen, Deutschland ist ein Rechtsstaat und wird sich auf so eine Erpressung nicht einlassen.
MÖ: Würden sie jedoch generell davon reden, dass Erdogan Personen benutzt und einsperrt, um sie für seine Interessen zu nutzen?
RH: Das Wegsperren dient Erdogans Interesse, sich seine Kritiker und politischen Konkurrenten vom HAls zu halten und einzuschüchtern.
ENDE DES INTERVIEWS
1. (zu Frage Nr.2) Wie sehen Sie das Potential der türkischen Bevölkerung zur Aufarbeitung der in den letzten Jahren geschehenen Ereignisse? Welche Schritte bzw. welche Veränderungen müssten vollzogen werden (im Sinne der Aufklärung), um das Land zu demokratisieren?
RH: Das was mir heute Hoffnung in der Türkei macht, das sind die Ehefrauen und Ehemänner, Kinder oder Eltern, die sich mutig für die politisch Verfolgten in der Türkei einsetzen. Auch Abgeordnete des türkischen Parlamentes oder Bürgermeister, die ihren Mund aufmachen. Anwälte, die weiter ihre Arbeit machen obwohl viele ihrer Kolleginnen und Kollegen inzwischen selber verfolgt und eingesperrt sind. Es hat mich sehr bewegt, in den Gerichtsverhandlungen in Istanbul, an denen ich als Beobachterin teilgenommen habe, zu erleben, wie wichtig einfach schon die Präsenz von Familie und Freunden für die Angeklagten ist. Die Tochter eines eingesperrten Freundes hat sich im Gerichtssaal entschieden Jura zu studieren. Solche Frauen wie sie werden die Türkei wieder zum besseren verändern. Es gibt auch heute immer noch eine andere Türkei als die von Erdogan.