Der Prozess gegen die Mitarbeiter der Zeitung "Cumhuriyet" wird am Freitag (09.03.2018) fortgesetzt. Ich verfolge das Verfahren seit der Eröffnung Ende Juli 2017. Aus Anlass meiner bevorstehenden Reise als Prozessbeobachterin habe ich einen Brief an meinen Freund, den inhaftierten Journalisten Ahmet Şık geschrieben:
Lieber Ahmet!
Am Donnerstag werde ich wieder nach Istanbul reisen, um dann mit deiner Frau, deiner Tochter, deinen Kollegen und Kolleginnen an dem Prozess teilzunehmen, den der türkische Staat gegen dich führt. Mit mir werden andere Beobachter anreisen. Wir kommen, auch wenn wir oft ratlos sind angesichts der unvorstellbaren Eskalationen in der Türkei. Wir kommen, weil wir uns zwar sehr freuen über die Freiheit für Deniz Yücel, aber weil es uns das Herz bricht, dich und die anderen Journalisten und Journalistinnen hinter Gittern zu wissen. Ich komme, weil an dem Tag, an dem Deniz frei kam, die Urteile gegen Ahmet Altan, Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak, Yakup Şimşek, Fevzi Yazıcı, und Şükrü Tuğrul Özşengül gefällt worden sind. Lebenslängliche Einzelhaft für alle sechs Angeklagten. Mich friert, wenn ich daran denke. Mich empört, dass in Berlin trotzdem über Normalisierung der Beziehungen zur Türkei geredet wird.
Ich weiß nicht, ob du den Brief von 38 Nobelpreisträgern an den türkischen Präsidenten gesehen hast. Die Schriftsteller J.M. Coetzee, Kazuo Ishiguro und Svetlana Alexievich haben den Präsidenten daran erinnert, dass er in einer Würdigung für Çetin Altan, dem Vater von Mehmet und Ahmet Altan, versprochen hatte, dass die Türkei nicht mehr das Land sei, das seine großen Schriftsteller bestraft und einsperrt. Nun, 9 Jahre später, wurden Çetins Söhne zu höchstmöglichen Strafen verurteilt. Die Türkei fällt zurück in eine Ära, von der wir gehofft hatten, sie sei vorbei.
Lieber Ahmet, ich und andere werden am Freitag in Silivri sein, weil wir hinter dir und deinen Kollegen stehen wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Weil wir wollen, dass du uns siehst und weißt, dass wir neben deiner und euren Frauen, Kindern und Freunden stehen. Sie sind so mutig und konsequent, dass es mich beschämt. Es ist wenig genug, was wir von außerhalb der Türkei tun können. Aber der Mut eurer Familien und das Unrecht in den Gerichtssälen müssen gesehen werden. Wir wollen motivieren, nicht den Blick abzuwenden von Tausenden, die ohne Aussicht auf rechtsstaatliche Verfahren in der Türkei eingesperrt sind. Und es werden mehr. In der Ära Erdogan wird heute schon eingesperrt, wer die Operation Olivenzweig kritisiert.
Ich denke oft an unser letztes Treffen in Istanbul in diesem kleinen Restaurant in der Nähe vom Taksim Platz. Es war im November nach dem Putsch. Es gab immer wieder neue Speisen und viel Raki. Wir haben über die Rückkehr von Wut und Angst, von Hass und Verzweiflung und der immer heftigeren Polarisierung in der Türkei gesprochen. Du hast mir deine Sicht auf den Putsch erklärt, dass du darüber schreibst und nicht verschweigst, dass du den Behauptungen der Regierung nicht glaubst. Und du hast die Eskalation gegen jede Opposition in der Türkei nicht befürchtet, sondern du hast an dem Abend viel von dem vorausgesagt, was danach kam. Ich hätte euch damals gern mitgenommen, dich und Yonca. Ich hatte Angst um euch und sagte, ich wolle dich nicht wieder im Gefängnis besuchen. Aber du warst so sicher, dass du nur in der Türkei Journalist sein kannst. Und du warst dir auch sicher, dass du für dein Land Journalist sein musst. Kurze Zeit später erfuhr ich von unserem Freund und deinem Anwalt Can, dass du verhaftet worden bist. Das ist jetzt ein Jahr und 69 Tage her.
Seit Beginn deiner Haft habe ich genau wie für meinen Kollegen Selahattin Demirtas und für die Schriftstellerin Nazlı Ilıcak Besuchsanträge beim türkischen Justizminister gestellt. Aber anders als im Jahr 2011 habe ich keine Erlaubnis bekommen, dich oder die anderen im Gefängnis zu sehen. Auch das ist die neue Ära.
Wenn alles klappt, werde ich also am Freitag in Silivri im Gericht sitzen. Trotz meiner Ratlosigkeit, wie es weitergehen kann mit der Politik der EU gegenüber der Türkei, die sich so rasend schnell entfernt von dem, was die neue Ära sein sollte. Was ich weiß, ist, dass wir dich und die vielen anderen, die in die Mühlen der politischen Justiz gekommen sind, nicht allein lassen dürfen. Und ich weiß von dem ersten Besuch bei dir in Silivri, wie einsam es sich dort angefühlt hat.
Wir kommen, weil wir dich und die Kollegen wieder in Freiheit sehen wollen. Wir kommen, weil Journalismus kein Verbrechen ist. Ich komme, weil ich es mir so sehr wünsche, dass wir wieder am Taksim zusammen essen und trinken und hitzig reden und streiten, was zu tun ist, in der Türkei und in der EU.
Ich danke dir für deinen Mut selbst im Gefängnis. Und ich werde alles versuchen, damit du wieder in Freiheit arbeiten kannst.
Herzlich. Rebecca