Das ist der Mann, den bis vor kurzem außerhalb der Ukraine niemand kannte. Und das ist der Mann, der nach einem großen Erfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 31. März in der Ukraine gute Chancen hat, als Chef in die Bankova, den Sitz der ukrainischen Präsidenten in Kiew einzuziehen. Die Wähler haben am Sonntag die Umfrageergebnisse der letzten Wochen zu den Chancen des Amtsinhabers und seines unerwartet starken Herausforderers bestätigt. Selenskyjs Vorsprung auf den Amtsinhaber Petro Poroschenko scheint nach der Auszählung der Stimmen kaum einholbar.
Eine sehr große Zahl von Wählern hat trotz der andauernden Aggression Putins und trotz Besetzung der Krim und großer Teile des ukrainischen Ostens im Donbass nicht für den Amtsinhaber gestimmt, der seit 2014 mit der Zustimmung der Mehrheit der Werchowna Rada die Ukraine in schwieriger Zeit regiert. Kein Kandidat, auch nicht Julija Tymoschenko, eine der bekanntesten Politikerinnen ihres Landes, konnte mit Selenskyj mithalten. Es sieht so aus, als sei fünf Jahre nach dem Maidan keiner der Leute aus dem ukrainischen Gestern mehrheitsfähig, der Leute, die die ewigen politischen Eliten des Landes repräsentieren. In der ersten Runde stimmten über 30% für einen in der Politik unbekannten und unerfahrenen Mann. Die allermeisten Leute kennen ihn auch nach dem Wahlkampf nur aus der Fernsehserie, in der er einen Mann spielt, der zufällig Präsident der Ukraine wird. Selenskyj hat sich am Wahlkampf nicht beteiligt, sondern weiter das getan, was er kann: Comedy und Fernsehen. So absurd diese Geschichte klingt, so ernst ist die Abstimmung zu nehmen.
Die Abstimmung scheint der Versuch gerade junger Leute, ein Zeichen zu setzen, dass sie von den Veränderungen der letzten Jahre nicht überzeugt sind. Gerade für die jungen Leute, für die die Frage nach der eigenen Zukunft noch wichtiger ist als für ihre Eltern oder Großeltern, scheint der unbeschriebene Kandidat Selenskyj eine ideale Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnung zu sein. Das ist für alle ukrainischen Politiker, die seit dem Maidan in der Politik die Geschicke der Ukraine geprägt haben, eine unerwartete neue und harte Erfahrung. Es ist aber auch eine gute Erfahrung. Ein Freund sagte mir am Morgen nach der Wahl in Odessa: Für unser Land ist das Wählen besser als ein neuer Maidan und neue innere Konfrontationen. Die Ukraine hat mit Putins Aggression schon mehr als genug Konfrontation zu bestehen.
Das Ergebnis der ersten Runde ist aber auch eine Erfahrung für uns als Freunde der Ukraine und als Unterstützer des europäischen Kurses und der Reformen im Land. Richtig ist, dass es Fortschritte in vielen Bereichen der staatlichen Institutionen gab, dass Transparenzregeln gesetzlich verankert und Anti-Korruptionsbehörden aufgebaut worden sind. Die Dezentralisierung wurde in Angriff genommen und kann das Verhältnis zwischen der Hauptstadt und der Provinz aber auch zwischen Bürgern und Staat zum Guten verändern. Trotzdem haben sehr viele Ukrainer kein Vertrauen zu den allermeisten Politikern, die heute Einfluss haben. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes kurz vor dem Wahltag, unrechtmäßige Bereicherung zu entkriminalisieren, ist ein Beispiel für die frustrierenden Erfahrungen der Ukrainer mit ihren Eliten. Und dass Gewalt gegen Journalisten und Antikorruptionsaktivisten straffrei bleibt zeigt, dass die oft gelobte Zivilgesellschaft in der Ukraine 5 Jahre nach dem Maidan an vielen Orten ihre Rolle nur unter Inkaufnahme von großen und unannehmbaren Risiken spielen kann.
Für mich ist nach dem Ergebnis der ersten Runde der Wahl dreierlei wichtig. Erstens ist es unbedingt zu würdigen, dass die Ukrainer, die seit fünf Jahren mit dem Krieg Putins, mit Besatzung und Vertreibung leben müssen, weiter demokratisch und frei wählen. Zweitens bedeuten die Abstimmung aber auch, dass wir noch mehr über die von uns unterstützten Reformen und die Langsamkeit der Veränderungen nachdenken müssen. Zu wenig von diesen Veränderungen kommen bei den Leuten an. Drittens ist noch einmal klargeworden, dass unsere zuverlässige Unterstützung beim Aufbau des Staates, eines „normalen Staates“ wie es auf dem Maidan immer hieß, gewünscht und gebraucht wird.
Bis zur zweiten Runde wünsche ich den Bürgern der Ukraine eine faire politische Auseinandersetzung und keine Schlammschlacht. Nach dem bisherigen Wahlkampf wissen wir, dass das nicht selbstverständlich ist. Die Bürger der Ukraine haben verdient, dass sie von ihren Politikern endlich ernst genommen werden.