Rebecca Harms' Beitrag zur Debatte über "Grüne Bürgerlichkeit" im Debatten-Magazin "The European":
Seit ein paar Wochen wird in den deutschen Zeitungen mit Inbrunst über das neue Verhältnis der Grünen zu Bürgerinnen und Bürgern räsoniert. Diese Entdeckung der neuen Bürgerlichkeit der Grünen begann mit der Wahl des Grünen Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Weiter aufgeladen wurde sie mit der Wahl des Grünen Fritz Kuhn zum Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart. Die Wahl von Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin als Spitzenduo für die nächste Bundestagswahl hat die Debatte weiter befeuert.
Die Geschichte ist eine andere
Wie neu ist diese Beziehung zwischen Bürgern und Grünen eigentlich? Wenn ich dazu gefragt werde, dann erzähle ich die Geschichte dieser Beziehung anders, als sie derzeit in den Zeitungen nachzulesen ist. Ich halte sie nicht für neu. Es war einmal vor langer Zeit irgendwann in den 1970er-Jahren in Deutschland. Da entdeckten Bürgerinnen und Bürger, dass das Wirtschaftswunder Deutschlands mit hohen Kosten einherging, die nicht einkalkuliert wurden. Es wuchs eine neue Nachdenklichkeit darüber, welche Lasten eine Industriegesellschaft nachkommenden Generationen überlassen dürfe. Es wuchs die Einsicht, dass Wachstum an natürliche Grenzen stoßen würde. Die Deutschen entdeckten, dass der Fortschritt nicht allein mit Vorteilen, sondern auch mit unüberschaubaren Risiken einherkam. Die irrwitzigen Expansionspläne für die Atomenergie führten zu Massenprotesten. Für eine neue Form sich politisch zu organisieren wurde ein neuer Begriff geboren: die Bürgerinitiative.
In diesen Bürgerinitiativen organisierten sich Bürgerinnen und Bürger. Sie kamen aus allen Schichten, aus allen politischen Parteien, aus den Kirchen, aus damals überaus konservativen Naturschutzverbänden, den Gewerkschaften oder dem Bauernverband. Landfrauen, Hausfrauen und aufsässige Schülerinnen entschieden sich im Widerstand gegen die Hochrisikotechnologie Atomkraft und für das neue Denken. Sie schmiedeten zusammen mit Wissenschaftlern nicht nur die Grundlagen für das, was wir heute unter dem Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ zusammenfassen. Sie waren auch bereit, der Durchsetzung dieses neuen Denkens durch bürgerlichen Ungehorsam Raum zu verschaffen. Sie wollten etwas bewahren und stritten deshalb für Umkehr. Sie definierten sich als konservative Revolutionäre und als revolutionäre Konservative.
Diese Bürgerinitiativen schufen den Raum in der deutschen Gesellschaft, der die Grünen ermöglichte. Ihr neues Denken war so etwas wie der Gärteig, der die Grünen vorstellbar und notwendig machte als politische Kraft in Deutschland. Dieses neue Denken aus den Bürgerinitiativen beeinflusste von Anfang an stark die grüne Programmatik. Dass wir die Welt nur von unseren Kindern gepachtet haben und dass wir überhaupt nur diesen einen Planeten haben, waren bestimmende Ideen der 1970er- und 1980er-Jahre. Wer die Reden vom ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann heute – 35 Jahre später – hört, der erkennt, wie weit das neue Denken von damals reicht.
Konservativ-revolutionäre Erfolge
Wenn die Grünen mehrere Jahrzehnte nach dem Aufbruch der Bürger für das neue Denken und für die Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs um die Generationengerechtigkeit, plötzlich in den Verdacht geraten, sie wollten sich ein neues Gewand geben oder sich gar bürgerlich anbiedern, dann ist das eine absurde Unterstellung. Vielleicht haben wir als Grüne ein paar Umwege gemacht. Wir haben aber auch erfahren, dass die großen politischen Umbauideen, die wir für die überkommene Industriegesellschaft verfolgen, mehr Zeit brauchen als damals in den Bürgerinitiativen geglaubt wurde. Wir haben gelernt, dass es nicht nur Geduld braucht für konservativ-revolutionäre Erfolge. Wir haben auch gelernt, dass wir mehr Zustimmung und auch Macht und Einfluss gewinnen müssen, wenn wir Erfolge wollen. Der Ausstieg aus der Atomenergie hätte selbst nach Fukushima nicht so beschlossen werden können in Deutschland, wenn nicht die übergroße Mehrheit der Deutschen seit Tschernobyl hinter diesem Ziel gestanden hätte.
Wenn wir heute in unseren Programmen die große grüne Transformation der Industriegesellschaft nach vorn stellen, dann wissen wir, dass wir für diese große Umkehr viel mehr Bürger gewinnen müssen. Die Agrarwende wird wohl kaum richtig funktionieren, wenn die Bäuerinnen und Bauern sie nicht wollen. Selbst unsere Idee, mehr Gerechtigkeit durch zahlreichere und bessere Bildungsinstitutionen zu schaffen, steht und fällt mit der Bereitschaft der Bürger, sich gesellschaftliche Orte wie Schulen neu anzueignen.
Spannende Herausforderung
Die für mich wichtigste Idee, die Winfried Kretschmann nach seiner Wahl in sein politisches Programm genommen hat, ist die Bürgergesellschaft. Die Grünen mit ihren Wurzeln so tief in den Bürgerbewegungen im Westen und auch im Osten Deutschlands sind die Kraft, die weiter an der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat arbeiten muss. Wie stellen die Bürgerinnen und Bürger sich ihre Verantwortlichkeit vor? Wann und zu welchen Themen wollen sie wirklich mehr Verantwortung? Wo braucht die Politik verbindlicher die Einmischung? Wie soll was geklärt werden? Wie wollen wir in Zukunft leben und uns organisieren? Wie soll die Europäische Union weiterentwickelt werden? Erfahrungen zeigen, dass die Leute gar nicht immer und überall gefragt oder engagiert werden wollen. Bürgergesellschaft heißt auch, immer wieder herauszufinden, was besser von vornherein mit den Bürgerinnen und Bürgern geklärt werden sollte. Das ist eine spannende Herausforderung, für die die Grünen wie gemacht sind.
von Rebecca Harms
23.11.2012
Diesen und weitere Beiträge zur Debatte über "Grüne Bürgerlichkeit" können Sie auf der Website des "The European" nachlesen: http://www.theeuropean.de/rebecca-harms/5525-die-gruenen-und-das-buergertum