Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#türkei    12 | 07 | 2017
Blog

Kollektive Verfolgung in der Türkei

Der Türkei-Bericht 2016, den wir in der letzten Woche im Europaparlament diskutiert und abgestimmt haben, ist eine Reaktion auf die Abkehr von der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Das Land wird von seinem Präsidenten und der Regierung in eine immer größere innere Zerrüttung getrieben. Niemand bezweifelt, dass der Putschversuch des letzten Jahres aufgeklärt werden muss. Niemand bezweifelt, dass denen, die für den schrecklichen Tod von so vielen Menschen in der Putschnacht verantwortlich sind, der Prozess gemacht werden muss. Auch wenn das oft anders behauptet wird von Vertretern der türkischen Regierung. Leider sieht es heute nicht so aus, als ob in der Türkei eine rechtsstaatliche Aufklärung zu rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren führen wird.

Wir beobachten stattdessen ein großes Aufräumen unter Kritikern und Gegnern von Präsident Erdogan. Nirgends auf der Welt sind in einem Land so viele Journalisten in Haft. Der Journalist von der deutschen Welt, Deniz Yücel, ist einer von rund 160 Journalisten und Schriftstellern, die eingesperrt sind, weil sie frei gedacht und geschrieben haben. Abgeordnete des türkischen Parlamentes von der HDP, mit denen wir zum Teil seit langem arbeiten, sitzen im Knast statt weiter das zu tun, wofür sie gewählt wurden. Mein Freund Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der HDP und Abgeordnete im türkischen Parlament, sollte jüngst nur in Handschellen seine Zelle verlassen dürfen, um an seinem Prozess teilzunehmen. Er hat sich geweigert. Er und alle anderen eingesperrten Oppositionsabgeordneten werden vor Gericht gestellt, weil sie die Politik von Erdogan kritisierten. Über 500 Kinder sind mit ihren Müttern eingesperrt worden. Als wir uns auch außerhalb der Türkei am letzten Sonntag alle über den großartigen Erfolg des Marsches für Gerechtigkeit "Adalet" freuten, ging die Hexenjagd am nächsten Morgen weiter. Vielleicht auch als Reaktion auf den Jubel von 1,6 Millionen türkischen Bürger für den Vorsitzenden der CHP Kemal Kılıçdaroğlu, der den Marsch angefangen und bis Istanbul quer durch die Türkei angeführt hat, wurden am Montag 72 Wissenschaftler verhaftet. Wir sind alle in großer Sorge um die beiden Lehrer, die wegen der ungerechtfertigten Entlassung aus dem Dienst im Hungerstreik sind.
 
Can Dündar hat schon im letzten Jahr gesagt, dass die Erdogan Gegner und Kritiker mit der Angst lebten, "abgeholt" zu werden. Und so erzählen es mir Freundinnen und Kollegen heute aus der Türkei: "Sie kommen uns holen." "Sie holen die Freunde, die Nachbarn."  "Sie kündigen meiner Schwester in der Klinik." "Sie drohen den Eltern meiner Frau."  "Gegen mich gibt es einen Haftbefehl. Meine Frau hat keinen Pass mehr, damit ich mich den Behörden stelle."  Tausende unter den Verfolgten und Eingesperrten gehören der Gülen-Bewegung an oder haben berufliche oder auch private Beziehungen zu dieser Bewegung. Ohne dass der Militärcoup aufgeklärt ist, wird trotzdem ein großer Teil dieser Bewegung kollektiv unter Verdacht gestellt, drangsaliert und eingesperrt. Gegen diese Massenverfolgung, die davon ausgeht, dass alle, die einer Gülen- Organisation angehören oder ihr nahe stehen, schuldig sind, müssen wir uns stellen. Es kann nicht sein, dass Männer, Frauen und Kinder verfolgt werden, weil sie in den Schulen oder Universitäten, den Zeitungen oder Krankenhäuser gearbeitet haben, in den Moscheen gebetet haben, die zur Gülen-Bewegung zählen. Das Vorgehen Erdogans gegen die Kurden, die Eskalation des Bürgerkrieges, die Verfolgung der HDP und oppositioneller Journalisten aus unterschiedlichen politischen Lagern ist unerträglich. Aber auch die Massenverfolgung von "Gülenisten"  muss ausdrücklich kritisiert werden. Auslieferungen an die Türkei dürfen unter diesen Bedingungen nicht stattfinden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss endlich die Fälle bearbeiten, die vielfach nach Straßburg getragen werden.

Das Europaparlament hat in Straßburg in der letzten Woche beschlossen, dass die Beitrittsgespräche suspendiert werden, wenn die Ergebnisse des jüngsten Referendums umgesetzt werden. Damit nehmen wir die Verträge ernst, auf denen die Verhandlungen fußen. Die Entwicklungen in der Türkei sind mit Beitrittsgesprächen nicht vereinbar.
Wir müssen nun weiter darüber nachdenken, wie wir das Verhältnis zur Türkei gestalten können. Meine türkischen Freunde, manche davon im Gefängnis, fürchten außer Erdogans Politik am meisten, dass sich die EU abkehrt. Das gilt für die Eingesperrten aber auch für die Bedrohten, für mutige Anwälte und Oppositionelle, für viele Männer und Frauen, die nicht schweigen und die sich jeden Tag fragen: Wer ist der nächste?


Zu den erschreckenden Erfahrungen gehört, dass Türken auch außerhalb der Türkei mittlerweile von Geheimdienstlern entführt werden oder durch die Zusammenarbeit der Türkei mit Staaten wie Aserbaidschan ihr Aufenthaltsrecht verlieren.
In Georgien werde ich am nächsten Wochenende über den Verlust von Menschenrechten im Ausland reden. Der Einfluss der Türkei in den Ländern am Schwarzen Meer ist besonders groß. Ich hoffe, dass ich auch den türkischen Lehrer Mustafa Emre Çabuk im georgischen Gefängnis besuchen kann. Er sitzt dort seit Ende Mai im Gefängnis und fürchtet seine Abschiebung in die Türkei.
 

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