Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#ukraine    22 | 01 | 2014

Interview auf stern.de: Unruhen in der Ukraine - "Janukowitsch hat die Ausschreitungen gewollt"

Die Unruhen in der Ukraine eskalieren. Im Interview mit stern.de sagt die Grünen-EU-Abgeordnete Rebecca Harms, dass die Situation dort sogar schlechter ist als die in der Diktatur Weißrussland.


Die Bilder aus Kiew sehen aus wie aus dem Bürgerkrieg: Straßenschlachten, prügelnde Polizei. Nun wurde im Zentrum der Hauptstadt sogar ein Mann erschossen. Wieso hat sich die Lage nach den wochenlangen Demonstrationen so zugespitzt?

Die Eskalation hat schon viel früher begonnen, nicht erst von wenigen Tagen. Schon Ende Dezember wurden demokratische Aktivisten angegriffen, wie zum Beispiel die Journalistin Tatjana Tschornowil, die brutal zusammengeschlagen wurde. Ich hatte sie damals im Krankenhaus besucht. Auch der Politiker Jurij Luzenko wurde Opfer von Gewalt. Und diese Überfälle waren kein Zufall.

Wer steckt dahinter?

Die Regierung hat die Ausschreitungen vorbereitet und gewollt. Demonstranten auf dem Maidan erzählen immer wieder, wie gezielt Provokateure eingeschleust werden, um Gewalt zu provozieren. Im Westen heißt es leicht, dass die Eskalation von beiden Seiten betrieben wird. Das ist aber überhaupt nicht der Fall.

Es gibt auch unzufriedene Demonstranten, die zurückschlagen?

Wenn Menschen sehen, wie ihre Freunde oder andere Demonstranten von Sicherheitskräften angegriffen, verprügelt oder verhaftet werden, dann reagieren sie natürlich auch. Aber es ist eine Reaktion. Inzwischen gibt es sogar Fälle, in denen Menschen einfach verschwunden sind. Der Aktivist Igor Luzenko war einen Tag lang in Gewalt von Spezialeinheiten, sie hatten ihn verschleppt, dann verhörten sie ihn, schlugen ihn zusammen.

Was bezweckt Präsident Viktor Janukowitsch mit dieser Eskalation?

Er will die Proteste zerschlagen. In den vergangenen Tagen hat er Notstandsgesetze durch das Parlament winken lassen. Dabei waren die meisten Parlamentarier nicht anwesend, die Gesetze waren nicht einmal vorbereitet. Seither dürfen Richter und ihre Familienangehörigen Waffen tragen, Versammlungen sind verboten, Beamtenbeleidigung kann mit Gefängnis geahndet werden. Jeder, der auf dem Maidan ist, muss mit Gefängnis rechnen.

Verwandelt Janukowitsch sein Land in eine Diktatur?

Er hat sein Land längst vom Kurs der Demokratie abgebracht. Die Gesetze schaffen eine Situation, die nach Einschätzung von Experten sogar schlechter ist als die in der Diktatur Weißrussland. Janukowitsch will die Menschen in seinem Land einschüchtern.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, die Ukraine sei unregierbar - und daran seien die Proteste schuld.

Das war eine harte Provokation. Die Europäische Union muss etwas dagegen setzen und klar stellen, dass natürlich nicht die Demokratiebewegung schuld ist. Die Verantwortung dafür tragen Präsident Janukowitsch und die Regierung. Sie haben das EU-Assoziierungsabkommen verworfen und die Ukraine in einen Ausnahmezustand geführt.

Was kann die Europäische Union nun tun?

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hatte schon im Dezember eine Verhandlungsstrategie gefordert. Die muss nun verfolgt werden. Es muss ein möglicher Vermittler für einen Runden Tisch benannt werden.

Sind Verhandlungen mit Janukowitsch überhaupt noch sinnvoll?

Um mehr Blutvergießen zu verhindern, macht das sicher immer Sinn. Aber die ukrainische Opposition fordert schon lange Sanktionen gegen Janukowitsch und die Regierung. Ich kann das gut verstehen. Die Familien vieler Politiker, die verantwortlich sind für den Notstand im Land, können uneingeschränkt in den Westen reisen, viele leben oder studieren sogar dort. Gezielte Reise-Einschränkungen sind aus meiner Sicht das mindeste, worüber die Europäer jetzt nachdenken sollten.

Der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle hat sich mit Oppositionspolitikern auf dem Maidan gezeigt. Frank-Walter Steinmeier gibt sich bislang viel zurückhaltender.

Angela Merkel ist in den letzten Jahren viel direkter in der Russland-Kritik geworden. Das fand ich gut. Sie war auch sehr deutlich in den Verhandlungen um das Assoziierungsabkommen mit der EU, bestand auf der Freilassung von Julia Timoschenko. Jetzt sehe ich noch keine klare Linie. Bislang haben Steinmeier und der neue Russland-Beauftragte Gernot Erler nur von dem "Ukraine-Problem" gesprochen - aus meiner Sicht eine Provokation gegenüber der Opposition. Bislang hat das Auswärtige Amt der Opposition die kalte Schulter gezeigt.

Wie sehen Sie Vitali Klitschkos Rolle?

In Deutschland wird er häufig zum einzigen Oppositionsführer gemacht. Das stimmt so nicht, es gibt einige Politiker, die die Proteste anführen. Aber er ist natürlich einer der großen Hoffnungsträger in seinem Land.


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