©Financial Times Deutschland 07.09.2010 Seite 1 |
Immer wieder schwänzen oder stören Europaabgeordnete wichtige Debatten. Jetzt greifen die entnervten Fraktionschefs durch: Wer fehlt, zahlt
Von Claus Hecking
Die Besucher auf den Rängen des Straßburger Europaparlaments trauten ihren Augen nicht. Gerade war das Plenum noch fast menschenleer, nun herrschte Chaos - mitten in einer Grundsatzdebatte über die Fischereipolitik. Zu Hunderten kamen Abgeordnete zur anstehenden Abstimmung in den Saal, schwätzten, scherzten, lachten - und ignorierten die Ordnungsrufe des Vorsitzenden. So laut wurde es, dass der extra eingeladene Handelskommissar Karel De Gucht das Weite suchte.
So wie bei der letzten Sitzung vor der Sommerpause geht es leider oft zu im Hohen Haus. Wenn sie gerade nicht selbst reden dürfen, lassen sich viele Abgeordnete im Plenum nur zu Abstimmungen blicken - gibt es dafür doch 298 Euro Tagegeld, die zum Jahresgehalt von 93 600 Euro dazukommen. "Unser Parlament leidet oft unter gähnender Leere oder totaler Unaufmerksamkeit", klagt Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms. Jetzt, da der Lissabon-Vertrag den Volksvertretern mehr Macht denn je gibt, sei das besonders schädlich: "Wenn dieses Haus ernst genommen werden will, muss es eine Debattierkultur entwickeln."
Hierzu wollen die Fraktionsvorsitzenden das Fußvolk nun zwingen. Jahrelang haben sie den Volksvertretern gut zugeredet, mehr Präsenz zu zeigen - vergeblich. Nun probieren sie es mit Geldbußen: Wer heute die erste große Rede von Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum Stand der Union schwänzt, ist dran. Erstmals gibt es in Straßburg elektronische Anwesenheitskontrollen. Insgesamt drei Checks sind für die um 9 Uhr beginnende Rede und die anschließende Debatte vorgesehen. Versäumt es ein Abgeordneter mindestens zweimal, nach Aufforderung den Kontrollknopf an seinem Platz zu drücken, verliert er wenigstens 25 Prozent seines Tagesgelds. So haben es die Chefs der großen Parteiengruppen vereinbart.
Manch einem auf den hinteren Bänken stößt das übel auf. "Das ist absurd. Ist heute schon der 1. April?", fragt Sarah Ludford von den britischen Liberalen. Der niederländische Sozialist Cornelis de Jong spricht von "Erpressung". Und der Grüne Bas Eickhout will erscheinen, aus Protest aber nicht aufs Knöpfchen drücken: "Mit Zwang erreicht man gar nichts", sagt Eickhout. "Wenn Barroso eine wirklich wichtige Rede halten und uns Visionen für Europas Zukunft nach der Krise aufzeigen würde, bekäme er den Saal automatisch voll. " Dies erwarte aber in Straßburg niemand.
Einige Abgeordnete verdächtigen Barroso, die Kontrollen selbst initiiert zu haben, um sich nicht vor leeren Rängen zu blamieren. Harms bestreitet das: "Bewähren sich die neuen Regeln, werden wir sie bei allen Grundsatzdebatten anwenden." Und ein altgedienter, stets engagierter Parlamentarier befindet: "Einige Kollegen hier benehmen sich wie kleine Kinder. Also müssen sie auch so behandelt werden."