Parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission von Rebecca Harms vom 10.08.2010
Die griechische Haushaltslage war bereits lange vor Bekanntwerden der Haushaltsmanipulation und den Turbulenzen auf den Finanzmärkten, zu denen es im ersten Quartal 2010 wegen der öffentlichen Finanzen Griechenlands gekommen war, alarmierend. Das öffentliche Defizit für 2008 lag bereits bei rund 8 % und damit weit über dem im griechischen Stabilitätsprogramm vom Januar 2009 veranschlagten Wert. Des Weiteren geht aus dem griechischen Stabilitätsprogramm vom Januar 2010 hervor, dass die Kommission schon am 2. Juli 2009 unter Berufung auf die verfügbaren Haushaltsdaten für das erste Quartal des Jahres 2009 zu bedenken gegeben hat, dass die Ausführung des Haushalts im Zeitraum Januar bis März 2009 beträchtlich von den in der jüngsten Fassung des Stabilitätsprogramms dargelegten haushaltspolitischen Zielen des betreffenden Jahres abzuweichen scheine. Sollten sich diese Trends über das Jahr fortsetzen, werde das zentralstaatliche Defizit mehr als 10 % des BIP betragen, während das offizielle Jahresziel für das zentralstaatliche Defizit bei 5 % des BIP liege (Mitteilung an die Euro-Gruppe, Brüssel). Diese Warnung steht auch im Einklang mit den Länderberichten („Country Focuses“) der GD ECFIN über Griechenland für die Jahre 2008 und 2009. In diesen Dokumenten wurde bereits lange vor der „Griechenland-Krise“ auf die erhebliche Problematik und besorgniserregende Lage der öffentlichen Finanzen Griechenlands hingewiesen und betont, dass der öffentliche und private Schuldenstand nicht länger tragbar sei.
Da sich die Situation der öffentlichen Finanzen 2008 dramatisch verschlechterte und es mehrere Hinweise einschließlich sehr konkreter frühzeitiger Warnungen für eine weitere Verschlechterung der Situation zu Beginn des Jahres 2009 gab, ist es befremdlich, dass Kommission und Rat nicht proaktiver eingegriffen haben.
Die Kommission hat dem Rat empfohlen (Empfehlung für eine Empfehlung des Rates an Griechenland zum übermäßigen Defizit vom 24. März 2009), der griechischen Regierung für die Einleitung wirksamer Maßnahmen zur Verfolgung eines strikteren Konsolidierungskurses im Jahr 2009 eine Frist bis zum 24. Oktober 2009 zu setzen. Weshalb hat die Kommission unter solch ausgesprochen alarmierenden Bedingungen diese Frist empfohlen, obwohl in Artikel 3 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1467/97 des Rates(1) eine Frist von höchstens vier Monaten vorgesehen ist? Wieso hat die Kommission, da die Situation das ordnungsgemäße Funktionieren der WWU zu gefährden drohte, dem Rat nicht empfohlen, unverzüglich einen Beschluss gemäß Artikel 126 Absatz 9 und Artikel 126 Absatz 11 AEUV zu fassen, wie es nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1467/97 des Rates möglich ist, oder sogar eine Empfehlung gemäß Artikel 121 Absatz 4 AEUV abzugeben? Hat die Kommission einschließlich Eurostat andere öffentliche oder vertrauliche Warnungen oder Mitteilungen an den Rat, die Euro-Gruppe oder die griechischen Behörden herausgegeben? Wenn ja, um welche Dokumente handelt es sich hierbei?
(1) ABl. L 209 vom 2.8.1997, S. 6.
Die Antwort von Herrn Rehn im Namen der Kommission
Wie die Frau Abgeordnete richtig bemerkt hat, hat die Kommission bereits lange vor der derzeitigen Krise wiederholt und öffentlich warnend auf die Lage der öffentlichen Finanzen in Griechenland und den problematischen Zustand der griechischen Statistiken hingewiesen. Diesen Bedenken wurde im jährlichen Bericht der Kommissionsdienststellen über die aufeinanderfolgenden Aktualisierungen des griechischen Stabilitätsprogramms zentrale Bedeutung beigemessen, wie eine nicht erschöpfende Liste von Beispielen (in chronologischer Reihenfolge) zeigt:
Die Kommissionsdienststellen (Eurostat) äußerten Vorbehalte gegenüber der Qualität der von Griechenland vorgelegten Daten und validierten diese im März 2004, September 2004, März 2005, September 2005, April 2006, April 2008 und Oktober 2008 nicht.
Im November 2004 verfassten die Kommissionsdienststellen (Eurostat) einen ausführlichen Bericht, aus dem sich ergab, dass die statistischen Ämter Griechenlands die Defizit- und Schuldenstandszahlen zwischen 1997 und 2003 nicht korrekt gemeldet hatten.
Im Jahre 2004 leitete die Kommission im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland ein wegen methodologischer Probleme bei der Erfassung von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen, Schuldenübernahmen und Militärausgaben.
Kurz vor Eskalation der Krise in Griechenland:
Im März 2009 hat die Kommission bei der Bewertung des Stabilitäts- und Wachstumsprogramms Griechenlands darauf hingewiesen, dass aufgrund der allgemeinen strukturellen Schwächen des griechischen Haushaltssystems erhebliche Risiken für die Erreichung der Haushaltsziele bestanden. Die Kommission hat ebenfalls hervorgehoben, dass durch die Finanzpolitik Griechenlands eine zeitgerechte und wirksame Eindämmung der strukturellen Ungleichgewichte der griechischen Wirtschaft und eine Umkehrung des Aufwärtstrends des öffentlichen Schuldenstands verfehlt werden. Des Weiteren wurde festgehalten, dass Griechenlands Haushaltsrahmen von den schlechten Ergebnissen vergangener Jahre geprägt war, welche die unzureichende Kontrolle der öffentlichen Ausgaben widerspiegeln, während sich gleichzeitig die Einnahmenprojektionen systematisch als zu optimistisch erwiesen hatten.
Im April 2009 kam die Euro-Gruppe auf der Grundlage einer Bewertung der Kommission zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Finanzen Griechenlands nicht tragfähig sind, und forderte die griechischen Behörden auf, eine Konsolidierungsstrategie zu entwerfen und monatlich darüber Bericht zu erstatten.
Die Kommission wies im Juli 2009 in einem Vermerk an die Euro-Gruppe darauf hin, dass die Ausführung des Haushaltsplans im Zeitraum Januar bis März 2009 erheblich von den jährlichen Haushaltszielen abzuweichen schien und dass — sollten sich diese Trends im Laufe des Jahres fortsetzen — das Defizit des Zentralstaates 10 % des BIP überschreiten und somit weit über dem offiziellen Jahresziel des Zentralstaates von 5 % liegen werde. Außerdem wurde betont, dass bei der bisherigen Ausführung des Haushaltplans vieles auf erhebliche finanzpolitische Fehlentwicklungen hindeute.
Die Kommissionsdienststellen (Eurostat) äußerten im Oktober 2009 einen Vorbehalt zu der Qualität griechischer Daten vom Jahr 2008 und führten im November desselben Jahres einen methodenbezogenen Besuch durch. Im Januar 2010 veröffentlichte die Kommission einen detaillierten Bericht über die statistischen Probleme in Griechenland, worauf die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Griechenland sowie ein Vorbehalt seitens Eurostat zu den am 22. April 2010 veröffentlichten griechischen Haushaltsdaten erfolgten.
Nachfolgend einige ergänzende Angaben zu spezifischen Fragen der Frau Abgeordneten, die die Empfehlungen der Kommission an den Rat in den Jahren 2009 und 2010 betreffen:
Am 27. April 2009 entschied der Rat gemäß Artikel 104 Absatz 6 EGV(1), dass in Griechenland ein übermäßiges Defizit besteht, und sprach gemäß Artikel 104 Absatz 7 EGV sowie Artikel 3 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates(2) Empfehlungen aus, die eine Beendigung des übermäßigen Defizits bis spätestens 2010 zum Ziel hatten. Außerdem setzte der Rat als Frist für die Ergreifung wirksamer Maßnahmen den 27. Oktober 2009 fest. Als Reaktion auf diese Empfehlungen kündigte die griechische Regierung am 25. Juni 2009 an, 2009 eine Reihe zusätzlicher haushaltspolitischer Maßnahmen umsetzen zu wollen, um den Haushaltsvollzug mit Blick auf Erreichung des Ziels von 3,7 % des BIP(3) zu „sichern“. Bislang wurden diese Maßnahmen von den griechischen Behörden aber nicht vollständig umgesetzt, da es sich größtenteils um einnahmensteigernde Maßnahmen handelte, von denen die meisten vorübergehender Art waren (einmalige Maßnahmen).
Der Rat stellte am 30. November 2009, drei Tage nach Ablauf der Frist, gemäß Artikel 126 Absatz 8 AEUV(4) fest, dass Griechenland keine wirksamen Maßnahmen getroffen hatte, und setzte Griechenland am 16. Februar 2010 gemäß Artikel 126 Absatz 9 AEUV mit der Maßgabe in Verzug, Maßnahmen zur Korrektur des übermäßigen Defizits zu treffen. Außerdem setzte der Rat als Frist für die Ergreifung wirksamer Maßnahmen den 15. Mai 2010 fest. In der Zwischenzeit fanden auf Arbeitsebene sowohl in Brüssel als auch in Athen mehrere Fachtagungen zwischen den Behörden und Kommissionsdienststellen statt, um die enge Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des endgültigen Haushaltsplans 2010 sowie des aktualisierten Stabilitäts- und Wachstumsprogramms Griechenlands zu gewährleisten.
Griechenland befand sich somit nicht nur in einer Finanzkrise, sondern war gleichzeitig mit umfassenden makroökonomischen Ungleichgewichten konfrontiert, die ihre Ursache in tief verwurzelten strukturellen Problemen hatten, was sowohl eine Überwachung der Wirtschafts- als auch der Haushaltspolitik gemäß dem AEUV und den einschlägigen sekundären Rechtsvorschriften erforderte. Zu diesem Zweck sprach der Rat am selben Tag, als der Beschluss des Rates gemäß Artikel 126 Absatz 9 AEUV bekannt gegeben wurde, gemäß Artikel 121 Absatz 4 AEUV Empfehlungen an Griechenland aus und gab gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates eine Stellungnahme ab zum aktualisierten Stabilitäts- und Wachstumsprogramm von Januar 2010. Zum ersten Mal wurden diese drei im AEUV verankerten Instrumente der Wirtschafts- und Haushaltsüberwachung und die einschlägigen sekundären Rechtsvorschriften gleichzeitig eingesetzt.
(1) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft.
(2) Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. L 209 vom 2.8.1997.