In den vielen Widersprüchen der Tage seit des Referendums in Großbritannien hat es mich überrascht, dass es dort nach der Niederlage der EU-Befürworter das erste Mal sichtbare Emotionen für Europa gegeben hat . Ich lese von Tränen, die auf den Straßen und in Büros um Europa vergossen werden. Ich lese vom Schmerz über den möglichen Verlust und einer neuen Lust an der Europäischen Union. Wie damit umgegangen wird, bleibt den Entscheidungen der neuen britischen Regierung und natürlich den Bürgern überlassen. Die EU der 27 muss Großbritannien in den kommenden Monaten fair behandeln. Sie muss aber auch fair gegenüber den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten sein. Das bedeutet auch, dass sie die Interessen ihrer Bürger und Unternehmen vertritt und auf die Einhaltung des EU-Rechts beharrt. Der Appell von Nicola Sturgeon, der ersten Ministerin Schottlands, und die Appelle der großen Demonstration in London bleiben aber richtig: Die Europäische Union, wir, müssen die Türen offen halten!
Was mich umtreibt ist die Frage, wie wir uns den Neo-Nationalisten, Antieuropäern und Populisten aller Couleur entgegen stellen, denen es mit einer antieuropäischen und fremdenfeindlichen Kampagne – über Jahre durch EU-Skeptiker quer durch das politische Spektrum vorbereitet – gelungen ist, eine Mehrheit hinter ihrer Austrittsforderung zu versammeln. Rationale Argumente waren offenkundig nicht geeignet, den Gefühlen, die die Brexit-Anhänger anheizten, etwas Überzeugendes entgegen zu setzen. Außerhalb Londons, Schottlands und Nordirlands gelang es den Remain-Kampagnen nicht, die Bürger wirklich zu erreichen. Die traurige Erfahrung ist, dass es auch viele Jahrzehnte nach dem Beginn der Europäischen Integration immer noch einfach ist, mit Lügen und Verunsicherung nationalen Egoismus und Fremdenfeindlichkeit anzustacheln und gegen die EU Stimmung zu machen. Dem müssen wir uns stellen.
Es waren viele kleine Leute, die in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben. Als Kind kleiner Leute sage ich heute: ich empfinde nur noch Verachtung für die Le Pens, die Farages, die von Storchs und andere, die dabei mitmachen, die kleinen Leute dieser Welt gegen andere kleine Leute und gegen Schwache oder Menschen in Not aufzuhetzen. Britische Arbeiter gegen Polnische Arbeiter, Britische Arbeiter gegen Kriegsflüchtlinge aus Syrien und andere Schutzbedürftige, Britische Arbeiter gegen Einwanderer aus dem Commonwealth. So lautet ihr Kalkül.
Die Brexit-Kämpfer haben die Sorgen und Verunsicherung der Bürger in der globalisierten Welt genutzt und befeuert, um die Europäische Union und damit die Friedensordnung auseinanderzunehmen. Für mich heißt das, dass wir die wachsende Verunsicherung unter den Bürgern endlich ernst nehmen müssen. Wir müssen unsere Antworten auf diese Sorgen klären. Die Polarisierung, die wir in Großbritannien erleben, ist kein rein britisches Phänomen und gegen Ungerechtigkeit anzugehen, ist für wahr keine neue Aufgabe. Wir erleben überbordenden Reichtum, krisengeschwächter Sozialsysteme und hohe Arbeitslosigkeit in vielen Mitgliedsstaaten: wenn wir in der EU diesem Auseinanderdriften nichts entgegensetzen, dann werden wir viele Leute nicht überzeugen können. Neben Freiheit und Demokratie ist es auch die Aussicht auf ein würdiges Leben, die die Europäische Union attraktiv gemacht hat.
Als Grüne haben wir Vorschläge zur Zügelung der Finanzmärkte und für faire Besteuerung von Unternehmen gemacht. Wir wissen, dass unsere Idee für einen Green New Deal oder zumindest eine Europäischen Pakt für Klimaschutz und Energiewende Innovationen erreichen und Arbeit schaffen kann. Wir sind seit langem für verbindliche Sozialstandards in der EU. Nachgedacht haben wir darüber lange genug. Die Zeit für starkes gemeinsames Handeln ist schon vor dem Referendum reif gewesen. Das gilt auch für die Flüchtlingskrise: Es sind aber nicht nur diese Erfahrungen mit der Brexit-Kampagne, die mich darauf drängen lassen, dass wir in der EU, zumindest in einer Gruppe der Mitgliedstaaten eine Verständigung darüber brauchen, wie wir eine verantwortbare Flüchtlingspolitik machen wollen. Dabei muss es gelingen, viel mehr Menschen aufzunehmen als zurzeit und mehr für den Schutz der Menschen in den großen Fluchtregionen rund um Syrien zu tun. Wir müssen auch bei diesen Zielen auf die Verunsicherung der Menschen achten. Die Herausforderung, die gemeinsamen Außengrenzen zu kontrollieren und zu managen darf nicht wegen der Rückkehr der Binnengrenzen aufgegeben werden. Das Gegenteil ist richtig. Die Binnengrenzen müssen dauerhaft überflüssig gemacht werden.
Jede Generation der Europapolitiker hatte große Herausforderungen zu bewältigen und hat vieles gemeistert. Und so müssen auch die Erfahrungen der letzten Jahre Konsequenzen haben. Quer durch die nicht-nationalistischen Fraktionen und unter den prodemokratischen und proeuropäischen Abgeordneten ist unbestritten, dass die Europäische Union besser funktionieren muss, um den wachsenden Herausforderungen und den Sorgen der Bürger in der globalisierten Welt gerecht werden zu können. Diese Haltung, das Erreichte weiter zu entwickeln, steht fundamental gegen das Interesse der Europagegner, die die EU beschädigen wollen. Denn unser pro-europäisches Interesse nach Reform und Weiterentwicklung fußt auf der Überzeugung, dass die Europäische Integration nicht nur damals, also nach dem Krieg, nach dem Faschismus und nach der Diktatur die richtige Antwort war. Die EU ist auch heute, trotz und mit ihren Defiziten, die bessere Antwort gegen Nationalismus und autoritäre Systeme aller Couleur. Nur wer bereit ist, die EU zu verteidigen und dabei anzuerkennen, dass diese Union auch immer Kompromiss ist, wird in der Lage sein sie zu verändern. Die Erfolge der Kampagne unserer Freunde in Schottland, die ohne Wenn und Aber für die EU eingetreten sind, zeigen auf, dass es geht.