Alternativen zur gesetzlichen Einstufung der Maghreb-Staaten als Sichere Herkunftsstaaten
Berlin, 27. Juni 2016
Das Konzept der scheinbar sicheren Herkunftsstaaten ist weder ein geeignetes
Instrument, um Zuwanderung aus den Maghreb-Staaten zu regulieren, noch die
Rückführung der abgelehnten Asylbewerber zu beschleunigen. Es werden mit
geringem Zeitgewinn Ablehnungen produziert, deren Betroffene deswegen jedoch
nicht schneller zurückgeführt werden können. Durch die Regelvermutung,
dass der Asylantrag „offensichtlich unbegründet“ ist, garantiert das Instrument
überdies kein faires Verfahren und es erschwert die Durchsetzung der Schutzansprüche
für die Einzelfälle von Oppositionellen, Bloggern, LGBTI und Journalisten,
die es zu identifizieren gilt, und ist daher entbehrlich.
Für diejenigen, die keine Aussicht auf die Anerkennung als Flüchtling haben,
werden Pull-Effekte besser durch schnelle Asylverfahren vermieden. Rückführungen
können durch individuelle Rückkehrbeihilfen unterstützt werden. Ein
faires Verfahren und effektiver Schutz für Verfolgte stellen sicher, dass die Herkunftsländer
davon ausgehen müssen, dass die Situation in ihren Staaten hier
gesehen, in Asylverfahren zur Sprache gebracht und auch in bilateralen Beziehungen
zu diesen Staaten thematisiert wird. Bei der Bearbeitung der Asylverfahren
braucht es für eine Übergangsphase eine neue Priorisierung, solange
nicht für alle gleichermaßen ein zügiges Verfahren gewährleistet werden kann.
Diese Priorisierung muss transparent und nachvollziehbar sein.
Im Jahr 2015 sind ca. 26.000 Personen aus Marokko, Algerien und Tunesien im
Rahmen des EASY-Systems registriert worden (darunter vermutlich viele Mehrfachregistrierungen).
Einen Asylantrag haben davon 4.190 gestellt. Im ersten
Quartal 2016 sind im EASY-System 4.435 Personen neu aus diesen Ländern
registriert worden. Von diesen haben 1.730 Personen einen Asylantrag gestellt.
Der Anteil der Asylsuchenden aus den drei Staaten betrug im letzten Jahr 1,11
Prozent bezogen auf die Gesamtzahl der Asylantragsteller. Im ersten Quartal
2016 lag der Anteil bei 0,98 Prozent. Quantitativ ist dies eine kleine Gruppe, die
aber symbolhaft für die Probleme im Umgang mit Geflüchteten und die aus der
Zuwanderung entstandenen Herausforderungen steht.
Diese geringe Zahl konzentriert sich, verursacht durch länderspezifische Bearbeitung
von Asylanträgen durch das BAMF, auf wenige Bundesländer, derzeit
noch vor allem auf NRW, seit Anfang Juni auf alle Länder.
Hinzu kommt die sich sehr schwierig gestaltende Rückführung, auch von abgelehnten
Asylsuchenden aus den drei genannten Ländern, da diese sich weigern
ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen bzw. deren Rücknahme deutlich
erschweren.
Um die Schwierigkeiten bei der Rückführung sowie die durch monatelange Bearbeitung
der Asylanträge und Wartezeiten beim BAMF mitverursachten Probleme
zu lösen, schlagen wir Folgendes vor:
1. Abbau des Überhangs an laufenden Verfahren durch Erlass einer Altfallregelung
zur Entlastung des BAMF
2. Fast and Fair. Eine Beschleunigung durch Priorisierung der Verfahren
und Gewährung einer unabhängigen Rechtsberatung
3. Informationskampagnen in den Herkunftsländern
4. Ausbau und Optimierung der individuellen Rückkehrbeihilfen bei freiwilliger
Ausreise
5. Wiederaufnahme der Verhandlungen über Rücknahmeabkommen mit
den Herkunftsländern im Maghreb bzw. Nachverhandlung mit Algerien
und Marokko zur erleichterten Passersatzbeschaffung und die Ermöglichung
von Gruppenrückführungen. Anreize für die Zustimmung der Herkunftsländer
könnte die Gewährung bisher verweigerter Visaerleichterungen
darstellen.
Dieser Aktionsplan setzt an den bestehenden Problemlagen an und ist effektiver
als eine politisch symbolhafte Ausweitung der vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten.
Verfahrensrechte werden eingehalten. Die Herkunftsländer dürfen
sich nicht darauf verlassen können, dass Verfolgung und Diskriminierung
faktisch akzeptiert sind. Kurzfristiges Ziel ist die zügige und rechtssichere Erledigung
aller Neuverfahren. Mittelfristig soll das System der sicheren Herkunftsländer
grundsätzlich durch ein faires und schnelles Asylverfahren ersetzt werden.
Das BAMF ist dabei der Flaschenhals im gegenwärtigen Asylverfahren.
Die Entscheider sind immer noch auf Jahre mit der Bewältigung der Altverfahren
beschäftigt, statt sich der geringer gewordenen Zahl der neu ankommenden
Flüchtlinge widmen und die Identifizierung der berechtigten Asylbewerber auch
aus Staaten mit geringer Schutzquote sicherstellen zu können. Voraussetzung
jeder Beschleunigung ist daher der Erlass einer Altfallregelung, um Kapazitäten
bei den Entscheidern freisetzen zu können.
Erläuterungen
Zu 1. Altfallregelung für lang andauernde Asylverfahren
Bei einem zu bewältigenden Stau an nicht entschiedenen Asylanträgen von
rund einer halben Million (Stand Mai 2016) und den noch nicht gestellten Anträgen
auf Asyl aus dem letzten Jahr (sog. EASY-Gap), in Höhe von geschätzten
mindestens 300.000 beim BAMF, brauchen wir einen klaren Schnitt. Asylbewerber,
die länger als ein Jahr im Verfahren sind, müssen die Möglichkeit auf
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG erhalten und ihren Asylantrag
hierfür zurückziehen können. Ein Asylverfahren würde damit obsolet.
Zu 2. Fast and Fair - Beschleunigung der Verfahren.
Wir streben für die Staatsangehörigen aus den Maghreb-Staaten eine Beschleunigung
durch Priorisierung der Verfahren an. Generell wollen wir das
System der vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten dadurch ersetzen, dass wir
im Asylverfahren wieder handlungsfähig werden und Asylverfahren dann entscheiden,
wenn die Flüchtlinge in Deutschland ankommen. Dafür werden Personen
aus Ländern mit erfahrungsgemäß geringer Anerkennungsquote priorisiert
angehört und über ihren Fall entschieden. In jedem Stadium des Verfahrens
wird eine unabhängige Rechtsberatung gewährleistet.
Ausgehend von den Zielsetzungen des Heidelberger Modells werden derzeit
vom BAMF deutschlandweit Ankunftszentren in Betrieb genommen. Dort werden
die Asylsuchenden vor Antragstellung in vier Cluster eingeteilt.
Die vom BAMF vorgenommene Priorisierung von Asylverfahren wird ausgebaut.
Die Verfahren sollen den eigenen Vorgaben des BAMF entsprechend binnen
zunächst drei Wochen, später innerhalb von 48 Stunden abgeschlossen
werden. Die Verfahren werden so noch weiter beschleunigt. Entsprechend ist
ein Fortschritt dann erzielt, wenn es gelingt, Asylanträge rechtlich noch stringenter
zwischen priorisierten und damit beschleunigten Verfahren (Cluster A
und B) und komplexe Verfahren (Cluster C) und Dublin-Fällen (Cluster D) zu
unterscheiden.
Das beschleunigte Verfahren gilt sowohl für Länder mit sehr hohen als auch für
Länder mit sehr geringer Schutzquote. Als Maßstab für Länder mit geringer
Schutzquote soll u.a. eine bereinigte Schutzquote von unter drei Prozent herangezogen
werden. Länder mit hoher Schutzquote sind solche mit einer bereinigten
Schutzquote von über 50 Prozent. Diese Einordnung wird auf eine verbindliche
Basis gestellt. Die Festlegung der Cluster für das beschleunigte Verfahren
erfolgt im Benehmen mit der UNHCR Rechtsberaterkonferenz durch
Verwaltungsvorschrift des Bundes. Im Unterschied zu den Sicheren Herkunftsstaaten
gibt es keine Änderung des Asylverfahrens, sondern es erfolgt eine Priorisierung
und die Asylsuchenden durchlaufen ein schnelleres, aber genauso
faires Verfahren, weil Prüfungsumfang und Prüfungstiefe hier nicht verkürzt
werden.
Zur Beschleunigung wird darüber hinaus die Möglichkeit eines schriftlichen Vorverfahrens
eingeführt. In diesem sollen die wesentlichen Asylgründe bereits
aufgeführt werden. Um trotz rascherer Verfahren rechtstaatlich korrekte Bescheide
zu gewährleisten, wird unabhängige Rechtsberatung für alle Asylsuchenden
eingeführt: Sie haben bereits im schriftlichen Vorverfahren Anspruch
auf eine unabhängige Rechtsberatung. Wie die Erfahrungen in der Schweiz
zeigen, trägt die Rechtsberatung positiv zu Rechtstaatlichkeit, Effizienz, Glaubwürdigkeit
und Akzeptanz des Asylverfahrens bei. In der Schweiz war die Beschwerdequote
um ein Drittel niedriger als im Regelbetrieb. Die unabhängige
Rechtsberatung ist somit ein Schlüsselelement der Beschleunigung. Die Finanzierung
übernimmt der Bund. Wenn die Rückführung zeitnah ermöglicht werden
kann, können die abgelehnten Asylsuchenden bis zur Ausreise in den Landesaufnahmeeinrichtungen
verbleiben.
Alle Antragsteller bekommen nach dem schriftlichen Vorverfahren eine Anhörung.
Damit ist der individuelle Vortrag weiter sicher gestellt. Durch die Vorklärung
kann die Anhörung aber gezielter und zügiger durchgeführt werden. Antragsteller,
bei denen nach der Anhörung keine weiteren Nachforschungen notwendig
sind, bekommen innerhalb von drei Wochen, nach Ausbau des Verfahrens
innerhalb von 48 Stunden ihren Asylentscheid (Schutzgewährung oder
Ablehnung mit Aufforderung zur Ausreise mit Abschiebungsandrohung). Ansonsten
werden sie in das Cluster C überführt. Die Länder stellen sicher, dass
Personal für eine zeitnahe Bearbeitung etwaiger Klagen durch die Verwaltungsgerichte
zur Verfügung steht.
Das erweiterte Verfahren (Cluster C) kommt bei Asylanträgen zur Anwendung,
bei denen nach der Anhörung nicht sofort über deren Erfolg entschieden werden
kann, da weitere Nachforschungen notwendig sind. Das erweiterte Verfahren
ist ein Regelverfahren für besonders schutzbedürftige Personen i.S. der
Aufnahmerichtlinie.
Zu 3. Informationskampagnen in den Herkunftsländern
Über einen Ausbau der Informationskampagnen in diesen drei Herkunftsländern
wird analog des Vorgehens in den Balkanländern über die Aussichtslosigkeit
und die (kurze) Dauer eines Asylverfahrens intensiver und zielgerichteter informiert.
So werden vorhandene Illusionen über eine Gewährung des Rechts auf
Asyl in den betroffenen Ländern ausgeräumt. Zugleich werden Gruppen wie
LGBTI, Oppositionelle etc. unterstützt und damit in den Ländern auch deutlich
gemacht, dass sie bei Verfolgung Asyl in Deutschland erhalten können.
Zu 4. Optimierung von Rückführung durch freiwillige Rückkehr und Abschiebemöglichkeiten
Eine Verbesserung der Rückführung in diese drei Herkunftsländer kann erfolgen
über:
- ein Rückkehrprogramm mit individuellen Rückkehrhilfen nur für die Geflüchteten,
die sich derzeit in Deutschland aufhalten. Dadurch sollen Pull-
Effekte vermieden werden. Die Hilfen werden ausschließlich in den Herkunftsländern
gewährt.
- Verhandlungen der Bundesregierung mit diesen Herkunftsländern über
zusätzliche Möglichkeiten von Gruppenrückführungen über die Einzelrückführungen
durch Nutzung der staatlichen Fluggesellschaften hinaus
und über vereinfachte Verfahren zur Passersatzbeschaffung unter Maßgabe
dessen, dass der Kontakt mit der Heimatbotschaft keine weiteren
Verfolgungstatbestände schafft.
- Diese Verhandlungen und ihr Erfolg sind eine unabdingbare Voraussetzung
für die Lösung der vorhandenen Probleme bei den Rückführungen.
Dazu gehört die von den Ländern angestrebte Gewährung von Visafreiheit
für Jugendliche und Geschäftsleute als Gegenleistung, um solche
Rückkehrvereinbarungen zu ermöglichen.
- Bund und Länder installieren ein auf den Rückkehrprozess bezogenes
Rückkehrmonitoring.
- Die deutsche Rückkehrpolitik wird eingebettet in die auf die drei
Maghreb-Staaten bezogene Nachbarschaftspolitik der Europäischen
Union.
Diese vorgeschlagenen Maßnahmen sind verfassungs- und europarechtskonform,
anders als eine Einstufung als Sichere Herkunftsländer von Marokko, Algerien
und Tunesien, auch aufgrund der auch von der Bundesregierung teilweise
eingestandenen prekären Menschenrechtslage. So gewährleistet ein solches
Verfahren, dass schutzbedürftige Personen wie LGBTI, Journalisten und Oppositionelle
weiterhin in Deutschland keine Einschränkung beim Asylrechtsschutz
befürchten müssen.
Dies kann auch ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um den Umgang
mit Geflüchteten sein. Zudem kann der Staat so seine Handlungsfähigkeit besser
als durch symbolhafte Debatten unter Beweis stellen.
Unterzeichnet von:
Tarek Al-Wazir
Claudia Dalbert
Robert Habeck
Ulrike Höfken
Katharina Fegebank
Karoline Linnert
Sylvia Löhrmann
Anja Siegesmund
Stefan Wenzel
Katrin Göring-Eckardt
Anton Hofreiter
Cem Özdemir
Simone Peter
Sven Giegold
Rebecca Harms
Das PDF Dokument zum Fast and Fair Aktionsplan finden Sie hier .