Im September 2015 reiste ich nach Budapest, um die Situation am Bahnhof Keleti zu begreifen. Tausende saßen dort fest.
Ich beobachtete ihren Jubel als die Nachricht kam, dass Angela Merkel über Dublin hinausgehen wolle und Deutschland für die aus Syrien Geflüchteten offen sei. Anfang Mai 2016, zehn Monate später, bin ich an die ungarisch-serbische Grenze gereist. Benedek Jávor, ein grüner Kollege aus Budapest, hatte mich gebeten, ihn zu begleiten und mir ein Bild von der Lage der Flüchtlinge dort zu machen. Am Zielort, dem Grenzabschnitt unweit der Städte Szeged und Tompa hat die Ungarische Regierung einen hohen Zaun errichtet. In Nähe der "Transitzonen" ist der hohe, mit NATO Draht getoppte Zaun zurückversetzt, sodass ein schmaler Streifen Niemandsland geschaffen wurde. In diesem Niemandsland vor den Eingängen in die ungarischen Transitzonen stranden täglich neue Flüchtlingsgruppen. An der Einreise gehindert, warten sie Tage, manchmal Wochen bis sie durch die schweren metallischen Drehkreuztüren eingelassen werden. Nur dank des Einsatzes von Nichtregierungsorganisationen werden sie sporadisch mit Essen und Trinken versorgt. Toiletten gibt es keine. Die Menschen hausen in kleinen Zelten, aus Decken und Planen improvisierten Unterständen. In den käfigartigen Gängen, die zu den Einlasstüren führen, drängen sich die Menschen, denn sie fürchten die nächste Öffnung zu verpassen. Meine Gespräche mit den Wartenden drehten sich um Angst, Krankheiten und die Sorge um die Kinder. Am meisten scheinen die Menschen allerdings unter der Ungewissheit zu leiden, wann und wie es für sie weiter geht. Sie berichten von Schleppern, die ihre unsichere Lage nutzen, und ihnen die schnelle Weiterreise nach Deutschland versprechen. Die Ungeduldigen und die, die noch Geld hätten, ließen sich darauf ein. Viele von ihnen scheiterten und kehrten zurück. Gemeinsam mit den anderen Flüchtlingen warten sie darauf, dass sie zu den täglich dreißig Ausgewählten gehören, die den Zaun passieren dürfen. Mit Ausnahme von Alleinreisenden Männern, werden die Menschen in offene Flüchtlingslager gebracht. Alleinreisende Männer müssen bis zu vier Wochen in einem Containerlager verbringen, das Teil eines von bewaffneten Soldaten gesicherten Lagersystems ist. Diejenigen mit denen ich im Containerlager gesprochen habe, waren trotzdem froh, es bis dorthin geschafft zu haben.
Die Situation der Menschen im Niemandsland an der ungarisch-serbischen Grenze spiegelt die Notlage und das Chaos an so vielen anderen Orten in Europa wider. Die unwürdige Lage zeigt, wie dringend wir eine verantwortliche Strategie, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik brauchen. Sie ist auch Folge der Bequemlichkeit und Ignoranz der vergangenen Jahre. Die Europäische Union war so sehr von der Euro- und Griechenlandkrise absorbiert, dass große Fragen zum Funktionieren Europas als lästig oder überfordernd angesehen wurden. Statt sich bekannten Herausforderungen zu stellen, wurden sie konsequent verdrängt. Das heutige Scheitern macht Versäumnisse sichtbar, für die wir gemeinsam verantwortlich sind. Das Dublin System diente dazu, die Probleme der Flucht auf die Ränder der EU abzuwälzen. Wir haben weder eine gemeinsame Idee vom politischen Asyl, noch eine Verständigung über Einwanderung verfolgt. Und selbst als die Ursachen für Flucht in unserer Nachbarschaft im Süden des Mittelmeeres eskalierten, hoffte das Zentrum der EU weiter mit Verdrängung davonzukommen. Seit die Flüchtlinge bis nach Ungarn gewandert sind, machen wir die Erfahrung, dass Schengen auf wackligen Füssen steht. Eher wird die Freizügigkeit aufgegeben, als dass sich Mitgliedsstaaten der Verantwortung in der Flüchtlingskrise stellen. Wir machen die Erfahrung, dass die Außengrenzen nicht funktionieren und dass die Türkeipolitik der vergangene Jahre gelinde gesagt kurzsichtig gewesen ist.
Eine Chance für adäquate Antworten auf die Herausforderung für die Probleme der großen neuen Fluchtentwicklungen gibt es nur, wenn die Europäer gemeinsam Politiken entwickeln, die unserer Verantwortung gerecht werden und unsere Werte verfolgen. Laut UNO waren zu Beginn des Jahres 2015 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Tendenz steigend. Schon diese Zahlt zeigt, dass angemessene Hilfe nicht von einzelnen Staaten geleistet werden kann. Ohne eine neue und große Anstrengung im Rahmen der Vereinten Nationen wird es nicht gehen.
Dabei muss die Bekämpfung der Fluchtursachen sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen - sei es im Engagement für ein Ende des Syrienkriege, Entwicklungszusammenarbeit, einer anderen EU-Landwirtschaftsstrategie oder beim internationalen Klimaschutz. Für die Flüchtlingsaufnahmen in der EU sind großzügige europäische Kontingente der entscheidende Schritt, der mehr Flüchtlingen einen legalen und sicheren Zugang in die EU ermöglicht, der das irrsinnige Geschäftsmodell der Schlepper bremst und für die Menschen auf der Flucht und in den aufnehmenden Gesellschaften ein Mehr an Verlässlichkeit erreicht. Die Vereinten Nationen fordern von den reichen Staaten der Welt in den nächsten zwei Jahren 500.000 Flüchtlinge aus Syrien direkt aufzunehmen. Auf der letzten Syrienkonferenz erhielt das UNHCR aber nur Zusagen für weniger als 100.000 Menschen.
In Brüssel hat die Debatte über eine Veränderung des Dublin Systems begonnen, bei der Bereitschaft der Mitgliedstaaten mehr Menschen zuverlässig aufzunehmen zeichnet sich noch keine neue Verantwortlichkeit ab. Ich plädiere mit einigen Kollegen im EP deshalb immer wieder für eine Koalition der Vernunft in einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die mit gutem Beispiel vorangehen und dafür aus dem EU-Etat honoriert werden.
Aus der Blockade innerhalb der EU und den beschämenden Zusagen an das UNHCR ergibt sich eine nächste Frage: Was tun wir für diejenigen, die keinen Platz in den Kontingenten finden und die sich nicht auf die Flucht machen? Für sie brauchen wir eine massive Verbesserung der Lage in den Flüchtlingscamps, in denen Menschen Zuflucht vor Krieg und Vertreibung suchen. Die Erfahrungen des UNHCR und die Berichte aus den Camps in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon weisen die Richtung für Veränderung. Der europäische Geiz gegenüber dem Welternährungsprogramm und der UN muss abgelöst werden von großzügigen und zuverlässigen Beiträgen. Das konventionelle Verständnis von Hilfe und Versorgung muss ergänzt werden durch Konzepte, die die Menschen ernst nehmen. Von vielen, die aus Flüchtlingscamps rund um Syrien und der Türkei nach Europa gekommen sind, hören wir, dass es nicht die Frage des täglichen Brotes allein war, die sie dazu gebracht hat den gefährlichen Weg über das Mittelmeer oder den Weg über den Balkan zu wagen. Die Menschen leiden auch unter dem Mangel an Beschäftigung, den fehlen Bildungschancen ihrer Kinder und Perspektivlosigkeit. Die Menschen auf der Flucht brauchen nicht Lager, sondern Städte auf Zeit, die ihnen mittelfristige Perspektiven liefern. Vor kurzem klang das noch wie eine abseitige Idee, jetzt ist es bittere Notwendigkeit.
Damit Schengen nicht nur als Mini-Schengen eine Chance hat, müssen auch die lange verdrängten Fragen zu den EU-Außengrenzen beantwortet werden. Es muss uns gelingen, ein europäisches Grenzregime zu etablieren. Wie es nicht geht, sieht man in Ungarn und auch in Griechenland. Dieses Grenzregime muss eine rechtsstaatliche Ordnung nach gemeinsamen Regeln etablieren und individuelle Menschenrechte von Flüchtenden und Asylbewerbern garantieren. Es muss Verlässlichkeit schaffen und Vertrauen nach Innen und nach Außen, damit die Freizügigkeit in der EU wieder hergestellt und erhalten werden kann. Die gemeinsame Verantwortung für die EU-Außengrenzen darf nicht auf die Türkei abgewälzt werden.
Die Türkei ist immer mehr ins Zentrum der Flüchtlingskrise gerückt: weil für viele Menschen auf der Flucht kein Weg um die Türkei herumführt, kommt auch die EU an der Türkei nicht vorbei. So berechtigt die Kritik an Präsident Erdogan und seinem Kurs ist, so muss es doch eine weitere Verständigung mit ihm und dem Land geben. Forderungen, die Zusammenarbeit mit Ankara per se abzulehnen sind angesichts der internationalen Fluchtrouten nicht durchzuhalten. Falsch ist es berichteten schweren Menschenrechtsverstößen gegen Flüchtlinge in der Türkei nicht nachzugehen. Das Abkommen erfordert eine aktive Rolle der EU in der Umsetzung. Es kann nicht sein, dass aus der Verdrängung des Problems auf Griechenland und Italien jetzt die Verdrängung in die Türkei folgt. Das mit der Türkei vereinbarte ein-zu-eins-Prinzip zur Übernahme syrischer Flüchtlinge muss durch großzügige Kontingente ersetzt werden. Die Flüchtlingsfrage darf nicht allein die Türkeipolitik der EU bestimmen. Wir erleben unter Präsident Erdogan eine systematische Abkehr von der Demokratie. Regierungskritische Medien und Journalisten werden mundtot gemacht. Oppositionellen Politikern droht der Mandatsverlust und ähnlich harte Bestrafung wie den kritischen Journalisten. Allein um die Oppositionspartei HDP zu schwächen, hat Erdogan den Krieg mit der PKK eskaliert. wenn es ernsthaft weiter um die Eröffnung von neuen Verhandlungskapiteln mit der türkischen Regierung geht, dann darf die EU die Abkehr von Demokratie nicht ignorieren.
Foto by: Bence Jardany