Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#ungarn    08 | 05 | 2013

Ungarns Verfassungsänderungen - ein Hintergrund

Was sind die bedenklichen Gesetzes- und Verfassungsänderungen der Regierung Orbán?

Orbán regiert seit den Parlamentswahlen von 2010 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Fidesz-Partei. Er nutzt diese Mehrheit, um nach und nach jede Pluralität im Land zu unterbinden.

Das Mediengesetz, das Ende 2010 verabschiedet worden ist, gilt als Präzedenzfall für Orbáns Strategie, autoritäre Staatsstrukturen aufzubauen. Die Kontrolle der Medien wurde verschärft, Hunderte kritische Journalisten wurden entlassen. Orbán besetzte Schlüsselpositionen mit seinen Anhängern.

Erst nach massivem Protest – unter anderem von der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament – nahm Orbán einige Vorschriften zurück. Dennoch: Die Medien sind seitdem praktisch gleichgeschaltet. Kritischer Journalismus ist nicht mehr möglich.

Bei der Justizreform wurde durch die Herabsetzung des Rentenalters für Richter von 70 auf 62 Jahre eine ganze Generation Juristen in den Ruhestand versetzt. Die Posten wurden an Fidesz-nahe Kandidaten vergeben. Der neue Orbán-treue Vorsitzende der nationalen Justizbehörde entscheidet seitdem darüber, welches Gericht welchen Fall behandelt und ernennt Richter.

Mit neuen Regeln für die Zentralbank will die Regierung auf die Geldpolitik Einfluss nehmen. Der zuständige Minister kann an Sitzungen des Währungsrats der Zentralbank teilnehmen. Das verstößt direkt gegen EU-Vorgaben zur Unabhängigkeit der Zentralbank.

Zahlreiche Persönlichkeiten wurden aus Schlüsselpositionen in Kultur und Bildung entlassen, weil sie den falschen Glauben oder das falsche Parteibuch haben.

Die neue Verfassung ist seit Anfang 2012 in Kraft und wurde seitdem vier Mal geändert. Hier die wichtigsten Punkte:

  • Die Verfassung gewährt ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten keinen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung.
  • Politische Entscheidungen u.a. im Bereich Renten und Steuern, die bisher von einer einfachen Parlamentsmehrheit gefällt werden, sind in sogenannten „Kardinalgesetzen“ festgeschrieben. Sie sind nur noch mit einer 2/3-Mehrheit änderbar, was einen Politikwechsel nach den nächsten Wahlen erschwert.
  • Das Verfassungsgericht darf Grundgesetzänderungen künftig nur noch auf ihre formale, nicht auf ihre inhaltliche Rechtmäßigkeit prüfen. Zudem können sich die Richter nicht mehr auf Urteile berufen, die sie vor Inkrafttreten der neuen Verfassung im Januar 2012 gefällt haben.
  • Die „Familie“ wird nun so definiert, dass unverheiratete, kinderlose oder gleichgeschlechtliche Paare vom gesetzlichen Schutz ausgeschlossen sind.
  • Die Meinungsfreiheit gilt nicht mehr, wenn die  "Würde der ungarischen Nation" verletzt wird.
  • Das Parlament kann darüber entscheiden, ob einer Glaubensgemeinschaft Kirchenstatus gewährt wird. Nach Einschätzung der Venedig-Kommission des Europarats verstößt diese Regelung gegen die Trennung von Kirche und Staat und führt zur Diskriminierung von Glaubensgemeinschaften.
  • Studenten werden verpflichtet, nach ihrem Abschluss für eine bestimmte Zeit in Ungarn zu bleiben und zu arbeiten – oder Studiengebühren zu zahlen.

Wie hat die Europäische Union reagiert?

Das Europäische Parlament hat sich seit Beginn in die Auseinandersetzungen eingeschaltet. Neben Debatten in Ausschüssen und Plenum wurden zudem drei Resolutionen[i] angenommen, in denen klare Kritik an der Regierung Orbán formuliert wird.

Bisher hatte das aber keine Konsequenzen. Die EU-Mitgliedsstaaten weigern sich bisher, gegen Ungarn vorzugehen. Nach dem Prinzip „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ unterstützen die konservativen Regierungschefs nach wie vor Orbán. Auch im Europäischen Parlament scheiterten weitergehende Schritte gestützt auf „Artikel 7“ (Details siehe nächster Punkt) an der konservativen Mehrheit.

Die EU-Kommission hat zwar mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Allerdings werden diese nicht mit der Verletzung der Grundrechte aus Artikel 2 begründet, sondern stützen sich auf Verstöße gegen konkretes EU-Recht. Die Justizreform zum Beispiel, so die EU-Kommission, sei Altersdiskriminierung. Damit stellt die Behörde allerdings nicht grundsätzlich die ungarische Regierungspolitik in Frage.

Weil weder die EU-Kommission noch der Rat der Mitgliedsstaaten bisher konsequente Schritte gegen das Land eingeleitet haben, hat das Parlament im Februar 2012 beschlossen, einen eigenen Bericht zu verfassen.

Der Portugiesische grüne Abgeordnete Rui Tavares wurde zum Berichterstatter ernannt.

Welche Möglichkeiten bestehen, gegen Verstöße gegen Artikel 2 des Lissabon-Vertrags vorzugehen?

Das einzige Mittel, dass der EU bisher zur Verfügung steht, ist das sogenannte „Artikel 7-Verfahren“. Dieses sieht vor, „bestimmte Rechte auszusetzen“, wenn eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ besteht. Dazu gehört auch der Entzug der Stimmrechte im EU-Rat.

Bisher gibt es für ein solches Verfahren weder im Europäischen Rat noch im Parlament eine entsprechende Mehrheit (im EP wird eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt). Die konservative Fraktion im Europäischen Parlament weigert sich bisher, gegen Orbáns Regierung Sanktionen zu verhängen.

Welche konkreten Vorschläge macht der Tavares-Bericht?

Es ist Aufgabe der EU, allen Unionsbürgern EU-weit denselben Schutz und dieselben Grundrechte zu garantieren. Sollte Ungarn sich nicht an die Empfehlungen im Bericht halten, fordert der Berichterstatter die EU-Institutionen auf, ein Verfahren auf Grundlage von Artikel 7 zu prüfen. Weil die Mehrheiten dafür bisher fehlen, schlägt der Berichterstatter aber darüber hinaus die Einrichtung von neuen Instrumenten und Mechanismen vor. Diese sollen nicht nur für Ungarn, sondern auch für zukünftige Fälle die Wahrung der Grundrechte garantieren:

  • Schaffung eines ständigen Forums aus Vertretern von EU-Kommission, Parlament und Rat. Das Gremium soll als „Grundrechte-Trialog“ die Situation in Ungarn überwachen. Falls die Regierung bis Ende 2013 nicht auf die Forderungen aus Brüssel reagiert, würde dies als klarer Vertrags- und Vertrauensbruch gewertet und zur Einleitung der Artikel7-Verfahrens führen.
  • Einrichtung einer „Kopenhagen-Kommission“ nach Vorbild der Venedig-Kommission des Europarates. Diese wäre dafür zuständig, in allen Mitgliedsstaaten laufend die Einhaltung der Kopenhagener Beitrittskriterien zu überwachen und jährlich Bericht zu erstatten über die Situation in jedem Land. Die Analyse soll in enger Zusammenarbeit mit bestehenden Initiativen von den Vereinten Nationen über nationale Menschenrechtseinrichtungen bis hin zu lokalen und zivilgesellschaftlichen Organisationen erfolgen.
  • Ausrichtung einer internationalen Konferenz zum Thema Grundrechte und ihrem Schutz innerhalb der Europäischen Union.

Der Berichterstatter hat zunächst gemeinsam mit Vertretern der übrigen Fraktionen die Situation in Ungarn analysiert. Dadurch soll Überparteilichkeit garantiert werden. Die Analysen stützen sich auf Reisen nach Ungarn sowie Gesprächen mit Vertretern von Regierung und Opposition, Zivilgesellschaft, usw..

Wie geht es weiter?

Der Bericht hat keinerlei direkte gesetzliche Wirkung. Er wird nun im zuständigen Ausschuss diskutiert und soll noch vor der Sommerpause im Plenum verabschiedet werden. Je größer die Mehrheit im EU-Parlament ausfällt, umso größer ist der Druck auf die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten, sich mit den Vorschlägen zu beschäftigen.

Rebecca Harms in der Presse zum Thema:
EU-Parlament will Ungarn das Stimmrecht entziehen (Die Welt, 08.05.2013)
Schlechte Noten für Ungarns Demokratie (DLF, Europa Heute, 08.05.2013)

 


[i] Resolutionen des Europäischen Parlaments:


#ungarn   #demokratie   #rechtsstaat