Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atomkraft    08 | 05 | 2006
Blog

Tschernobyl +20: Bericht von der Kiew-Konferenz

Mehr als 500 Teilnehmer aus aller Welt versammelten sich vom 23. bis zum 25. April zur Konferenz "Erinnern für die Zukunft- 20 Jahre nach Tschernobyl". Eingeladen hatten die Heinrich-Böll-Stiftung, die Grünen aus Europäischem Parlament und Bundestag gemeinsam mit NGOs aus aller Welt: Wise/NIRS, IPPNW, Earth Day und vor allem die ukrainischen Gruppen Eco-Club, Nationales Ökozentrum, Mamma 86 und Bankwatch. So war es möglich nicht nur Referenten Teilnehmer von allen Kontinenten zu erreichen. Sehr gefreut hat uns, dass die größte Gruppe der Teilnehmer aus Osteuropa - aus der Ukraine, Russland und Weißrussland kam.
 
Halina Stefanova, eine bekannte ukrainische Schauspielerin, zog die Teilnehmer der Eröffnung mit einer Lesung von neuen Texten der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in den Bann: "Noch immer benutzen wir alte Begriffe wie «nah» und «fern», «die Unseren», «die Fremden». Aber was bedeutet nah oder fern noch nach Tschernobyl, da die radioaktiven Staubwolken schon vier Tage später über Afrika und China waren?"
 
So bedrückend der Text, so ermutigend für mich das weltweite Interesse an den Problemen und Fragen, die sich für die Ukrainer und Weißrussen mit Tschernobyl verbinden. So konnte der Bann der Trauer aufgebrochen und eine erste Diskussion über die Ursachen und die Lektionen geführt werden. Für Kiew war das eine Premiere.
 
Tschernobyl, das ist bis heute eine offene Wunde. Es ist unzureichend, die Folgen der Reaktorkatastrophe allein an Zahlen der verursachten zusätzlichen Todesfälle festzumachen. Aber gegen das Herunterrechnen und Schönreden der Folgen, wie es von der Internationalen Atomenergieagentur in Wien betrieben wird, müssen wir uns zur Wehr setzen.
 
TORCH (The Other Report on Chernobyl) hatte ich im letzten Winter in Auftrag gegeben. Dr. Ian Fairlie hat mit einer Gruppe von englischen Wissenschaftlern eine neue Abschätzung der Folgen vorgenommen. Einerseits zeigt die Studie, dass durch Tschernobyl überall in Europa Menschen krank werden oder auch sterben. Andererseits wird deutlich, wie weitgehend die Katastrophe aus dem Bewusstsein verdrängt worden ist. Während die IAEA von knapp 9.000 zusätzlichen Krebstodesfällen ausgeht, sind in den letzten Monaten drei andere Studien unabhängig von einander zu dem Ergebnis gekommen, dass Hunderttausende von Menschen erkranken und Zehntausende sterben werden.
 
Das ganze Ausmaß der Katastrophe aber lässt sich mit Zahlen nicht erfassen. Verlust von Heimat, Verlust der eigenen Geschichte, Leben mit der Angst vor der Zukunft - wie soll das beziffert werden?
 
Zehntausende müssten noch evakuiert werden, doch Tschernobyl verschlingt schon ohne diese weiteren Umsiedlungen noch immer jährlich 5% des BNP der Ukraine. Obwohl mehrere Tausend Menschen noch heute mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sind, gibt es wenig Fortschritte. Sooft der Bau eines zweiten Sarkophages weltweit Schlagzeilen macht - sooft wird verschwiegen, dass bis heute kein Zwischenlager und keine der Müllbehandlungsanlagen, die von drei westeuropäischen Unternehmen der Atomwirtschaft gebaut werden, fertig gestellt werden konnte.
 
Am Geld liegt es nicht: Es besteht die Bereitschaft über eine Milliarde Dollar in das Projekt eines neuen Shelters zu stecken. Doch damit diese Summe für die Menschen in der Region Tschernobyl letztendlich mehr Sicherheit schaffen kann, muss für Transparenz in den Entscheidungsprozessen gesorgt werden.
 
Für die Teilnehmer aus der Ukraine waren die Beiträge zu den Alternativen Energiestrategien in ihrem Land besonders interessant. Das mit Abstand wichtigste Ziel heißt Einsparung und Effizienz. Käme die Ukraine auf die weltweit durchschnittliche Energieeffizienz, würde sich der Energieverbrauch um 65% verringern. Sehr großes Potential sehen Experten für eine ukrainische Energiewende auch für Biomasse und Geothermie aber auch für Wind- und Solarenergie.
 
Das Ziel, die irreführenden Zahlen der IAEA zu widerlegen, haben wir mit der Konferenz öffentlich erreicht. Und es scheint als sei mit diesem Jahrestag vor Ort in Kiew ein neuer und offensiver Ton gefunden worden für die Deutung der Katastrophe und für die Lehren, die daraus zu ziehen sind. Dies ist unerlässlich! Es wäre unerträglich, wenn ausgerechnet in der Ukraine eine Renaissance der Atomkraft in Gang gesetzt werden würde.


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