Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atom    26 | 07 | 2011

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Die Straße der Enthusiasten" in Gartow

Ausstellungseröffnung "Die Straße der Enthusiasten" in Gartow am 23. Juli 2011

 

Rede von Rebecca Harms

 

Diese Ausstellung ist hier in Gartow im Zehntspeicher der dritte Teil einer Ausstellungstrilogie, die der Westwendische Kunstverein im Rahmen des internationalen Projektes „Tschernobyl 25 – Expeditionen“ veranstaltet hat. Nach „Menetekel“ und der „Ethnographischen Spurensuche“ steht „Die Straße der Enthusiasten“ als Abschluss. Diese Ausstellung wurde anlässlich des 25. Jahrestages des Supergaus von Tschernobyl bereits in Berlin, Kiew, Warschau und Brüssel gezeigt. Im Herbst und Winter wird sie noch weiter wandern nach Freiburg und Hamburg. Sie wurde finanziell ermöglicht durch die Heinrich-Böll-Stiftung. Die Auswahl der Fotografien, der Plakate, der Filme, Texte und anderer Exponate haben Walter Mossmann und Eva Morat getroffen.

 

Besonders froh waren wir, dass der Fotograf Roberto Polidori seine Bilder aus der Zone zur Verfügung gestellt hat. Es ist hier in Gartow den Kuratoren Gabi Blonski und Hieronimus Proske in hervorragender Weise geglückt, diese Fotos in einem spannenden Zusammenhang zu den Arbeiten des russischen Fotografen Andrej Krementschuk, der Plakatkunst der frühen Zeit der Elektrifizierung aus der Sowjetunion und den Plakaten aus dem Projekt Block 4 aus Charkiw zu präsentieren. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Aber auch bei allen Geldgebern, die dieses und das Gesamtprojekt möglich gemacht haben, dem Vorstand des Westwendischen Kunstvereins, der dieses Großprojekt geschultert hat. Dankeschön auch an Angelika Blank für den umfassenden Einsatz über Monate. Und – leider in Abwesenheit – ein Dankeschön auch an Jochen Herbst, ohne dessen starken Willen all das zu verwirklichen, wir heute nicht hier versammelt wären.

 

Als wir im April dieses Jahres nach zwei Jahren Vorarbeit das Projekt Expeditionen anlässlich des 25.Jahrestages von Tschernobyl begonnen haben, vermischten sich die Erinnerungen an die Katastrophe in der Ukraine und das Wissen um die andauernden Folgen mit den Nachrichten und dem noch frischen Entsetzen über den Supergau von Fukushima.

 

Walter Mossmann wird mit seiner Rede in diese Ausstellung einführen, mit der wir zum 25. Tschernobyljahrestag auch in Kiew waren, nur einen Monat nach dem Beginn der Katastrophe von Fukushima.

 

Bevor er ihre/eure Gedanken auf sowjetischen Enthusiasmus und geplatzte Träume lenken wird, möchte ich dem einige Informationen aus Japan vorausschicken. Ich werde auf die politischen Folgen von Fukushima kommen. Und am Ende werde ich mit Wünschen und Forderungen an Sie herantreten.

 

Wer hätte im April dieses Jahres gedacht, dass heute, nur drei Monate später, kein Hahn mehr danach kräht, dass die schwelenden Ruinen der Atomreaktoren von Fukushima weiter außer Kontrolle sind? Wer hätte nach den Tickermeldungen, die zur Japanischen Tragödie im Minutentakt kamen, gedacht, dass die Welt sich genauso konsequent abwenden würde wie sie sich zunächst zugewandt hatte? Aber so ist die Welt. Und so sind wir.

 

Versuchen wir, uns wieder hinzuwenden:

Anders als es Kommentare rund um den Globus in der akuten Katastrophenzeit glauben machen wollten, sind die Japaner weder nur schicksalsergeben noch unbeirrbare Atomfanatiker.

 

Seit März wachsen die Proteste in Japan gegen das japanische Atomprogramm. Immer mehr Bürger organisieren sich im Protest und in notwendiger Selbsthilfe gegen die Folgen von Fukushima.

 

Ende Juni haben Wissenschaftler der Universität Tokio systematische Strahlenmessungen an 500 Orten durchgeführt. In einem vorläufigen Bericht heißt es, dass in der Stadt Fukushima in 50-60 km Entfernung vom AKW Daichi, die Strahlung doppelt so hoch ist wie im Sperrgebiet. In der Stadt leiden Menschen an geschwollenen Schilddrüsen, Zahnfleisch- und Nasenbluten. Japanische Behörden bestreiten alle Berichte über Symptome, die als Folgen der radioaktiven Belastung angesehen werden können.

 

Japanische Bürger und Wissenschaftler haben das Projekt 47 gestartet.In den 47 Präfekturen Japans werden Messstellen eingerichtet, die unabhängig vom Staat die Verseuchung von Umwelt und Lebensmitteln untersuchen werden. Die erste Messstelle, die die Arbeit aufgenommen hat, ist in der Stadt Fukushima.

 

Gerade Eltern, die weiter im Gebiet von Fukushima leben, sind verunsichert. Hunderte stillender Mütter aus Fukushima und Umgebung haben sich für Untersuchungen angemeldet, um den Grad der Verstrahlung ihrer Milch feststellen zu lassen. Die Hilfe der japanischen Regierungen schlagen sie aus. "Das machen wir so, weil wir nicht sicher sein können, ob uns die Regierung die korrekten Werte durchgeben würde."

 

Im Juni konnten wir lesen, dass für die Region Fukushima außerhalb der 30-Kilometer-Zone wieder eine partielle Evakuierung anempfohlen worden ist.

 

Für alle, die sich mit Tschernobyl und den Folgen beschäftigt haben, ist erschreckend und immer wieder bestürzend, dass nicht nur die Nachrichten über die Probleme sich wiederholen nach 25 Jahren. Es wiederholen sich auch die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit des Staates und der Atombetreiber und die gleiche Bereitschaft zur Untertreibung der Gefahren. Statt Aufklärung gibt es Desinformation.

 

Die berührendste Meldung aus Japan erzählt von einem der berühmtesten Kinderbuchautoren Japans, der selber als Kind Hiroshima überlebt hat. Er reist durch Schulen des Landes und versucht, die Kinder zu trösten. „Man kann das überleben......“, sagt er ihnen.

 

Nach dem Ausfall des Katastrophenkraftwerks Fukushima, nach der Abschaltung eines AKW, das mitten im Großraum Tokyo liegt und seit langer Zeit umstritten war, und wegen der notwendigen Überprüfung zahlreicher Atomanlagen nach Erdbebenschäden sind nur 19 der landesweit 54 Reaktoren Japans in Betrieb. Vielfach sperren sich aufgrund des Drucks der Bevölkerung örtliche Behörden gegen ein Wiederanfahren. Und das obwohl Japan derzeit unter einer massiven Stromknappheit leidet.

 

Nach einem aktuellen Bericht der Zeitung Asahi Shimbun hat eine Meinungsumfrage ergeben, dass 77 Prozent der Japaner den Ausstieg wollen. 22 Prozent wollen ihn schon in fünf, weitere 36 Prozent in zehn Jahren. Besonders unbeliebt sind die alten Reaktoren: 86 Prozent der Befragten verlangen deren sofortige Stilllegung.

 

In einer Versammlung seiner Partei erklärte Premier Naoto Kan jüngst , es werde mehr als zehn Jahre dauern, bis die zerstörten Reaktoren vollständig unter Kontrolle gebracht sind. Bis zur Beseitigung aller Folgen würden mehrere Jahrzehnte vergehen. Premier Kan kündigte inzwischen auch den schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraftnutzung an. Fukushima habe ihn zum Umdenken gebracht.

 

Seit Fukushima haben mehrere Beben Japan erschüttert. In vielen der Meldungen und Berichte dazu wird darauf hingewiesen, dass Japan noch auf "das große Erdbeben" wartet.

 

Die Wucht der japanischen Atomkatastrophe hat die Atomindustrie weltweit getroffen. Auch wenn gerade in der asiatischen Welt die atomaren Planungen aus der Vor-Fukushima-Zeit nicht aufgegeben werden, weil Regierungen daran festhalten wollen: Meinungsumfragen belegen für Asien den gleichen Trend, der überall da gezeigt wird, wo die Bürger befragt werden. Mehrheiten gegen die Nutzung der Atomkraft wachsen beeindruckend. Mexikaner und Brasilianer sind noch geschlossener als die Italiener oder die Deutschen gegen Atomenergie.

 

Die deutsche Entscheidung, fast die Hälfte der laufenden Reaktoren sofort vom Netz zu nehmen, ist der weltweit überraschendste Schritt nach Fukushima. Und erregt weiter viel Aufsehen und Nachfragen. Einer der ersten, der Merkel zum Ausstiegsplan gratulierte, war Präsident Obama. Aus Japan gibt es enormes Interesse. Dort sieht man Deutschland als das Land, dass sich jetzt mit einem Innovationsschub im Energiesektor im internationalen Wettbewerb neu aufstellt.

 

Schon vor Fukushima gab es keinen echten Boom für die Atomwirtschaft. Das erkennt man gut, wenn man die wichtigsten Atomregionen der Welt betrachtet: Europa und die USA. Über die Hälfte der europäischen Mitgliedstaaten sind entweder nie eingestiegen oder haben den Ausstieg beschlossen. In den USA gibt es keine Neubauten seit dem GAU von Harrisburg 1979, in der EU gibt es zwei Neubauten seit Tschernobyl. In den letzten Jahren gingen in den 30 Ländern, die überhaupt AKWs betreiben, mehr Reaktoren vom Netz als ans Netz.

 

Parallel zu diesem schleichenden Ausstieg aus der Atomkraft seit Tschernobyl und Harrisburg und vor Fukushima gab es eine phänomenale Entwicklung der Erneuerbaren Energien. Im Jahr 2010 überstieg die weltweite Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien die weltweit installierte nukleare Kapazität um etliche Gigawatt. Und das war vor noch Fukushima.

 

Diese Zahlen, die das Märchen von der atomaren Renaissance widerlegen, stammen aus dem neuen Bericht zur Lage der Atomindustrie, den der Energieexperte Mycle Schneider immer wieder vorlegt.

 

Ich zitiere diese Zahlen nicht, damit Sie sich jetzt zurücklehnen können nach dem Motto: „Der Ausstieg kommt schon“! Ich zitiere gerne das Erreichte, weil ich denke, dass es für uns immer gut ist in politischer Arbeit an Erfolge anknüpfen zu können.

 

Acht alte Atomkraftwerke weniger in Deutschland sind ein großer Schritt, den die Regierung Merkel ohne den jahrzehntelangen Einsatz der Bürger nie gegangen wäre. Aber natürlich dürfen auch nach diesem Schritt die Risiken der weiter laufenden Anlagen nicht verdrängt werden. Und selbstverständlich bedrohen uns auch die Atomkraftwerke außerhalb Deutschlands. Eine besonders haarsträubende Entscheidung ist es, die ganz alten ukrainischen Atomkraftwerke ans europäische Netz anzubinden. Billiger Atomstrom für Deutschland und die EU und das Risiko für die Ukraine?

 

Die Geschwindigkeit und die Qualität des Umbaus unseres Energiesystems hängt weiter von der Einmischung der Bürger ab. Ob die Risiken nur verlagert oder überwunden werden, das ist auch in Deutschland noch nicht entschieden.

 

Eine der schlechten Nachrichten zum Thema Risikoexport kam letzte Woche aus Brüssel. Der Rat hat bei nur drei Enthaltungen von Österreich, Luxemburg, Schweden einer Atommüllrichtlinie zugestimmt, die den Export von Atommüll aus der EU nach Russland weiter erlaubt. Die Bundesregierung hat sich weder enthalten noch etwa dagegen gestimmt. Die Bundesregierung hält den Weg zur Billiglösung des Atommüllproblems in Sibirien offen.

 

Fukushima hat nicht nur Naoto Kan sondern auch Angela Merkel zum Umdenken gebracht. Das Neue Denken der Angela Merkel über atomare Risiken macht bisher vor der Endlagerung, vor Gorleben, halt. Weiterhin ist die Angst vor einer neuen Standortsuche größer als die Angst, den hochradioaktiven Müll in einem ungeeigneten Salzstock zu vergraben. Der nächste Transport nach Gorleben wird nicht der letzte sein. (Wenn es um Atomkraft geht, wird nicht nur in Japan desinformiert, sondern auch in Hannover) Aber dieser nächste Transport im November wird für uns der Anlass sein, den Neubeginn bei der Endlagersuche zu erzwingen.

 

Mein Wunsch, meine Forderung, heute Abend an Sie, an Euch: Machen Sie mit, macht mit bei der Durchsetzung einer echten Energiewende. Und sorgen Sie, sorgt ihr mit dafür, dass das Atommüllproblem nicht weiter unter den Teppich gekehrt wird. Nicht in Gorleben und auch nicht in Majak oder Krasnojarsk. Ich danke für Ihr und Euer Interesse an der Ausstellung und den Künstlern, deren Arbeiten hier zu sehen sind.

 

Links zum Projekt:

- Rede von Walter Mossmann

- Rede von Rebecca Harms zur Eröffnung des Projekts

- Chernobyl25.org

- Tschernobyl 25 – Expeditionen


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