Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#tschernobyl    26 | 04 | 2011

Rede zum 25. Jahrestag von Tschernobyl und zur Eröffnung des Projekts "Tschernobyl 25 - expeditionen"

Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament

 

Rede anlässlich des 25. Jahrestages des Super-GAUs im Atomkraftwerk Tschernobyl und zum Projekt Tschernobyl 25 – Expeditionen

 

April 2011

 

 

    - Es gilt das gesprochene Wort -

 

25 Jahre seit Tschernobyl – sechs Wochen seit die atomare Katastrophe von Fukushima ihren Lauf genommen hat.

 

Zwei Ereignisse, die sich überlagern. Gewiss ist bisher nur eines in und um Tschernobyl und in und um Fukushima: für beide Orte und die Menschen in ihrer Umgebung ist der Schrecken ohne Ende.

 

Das Projekt Expeditionen, das heute startet, ist nicht der erste Versuch, das Wissen um und die Erinnerung an die Folgen von Tschernobyl wach zu halten und so weiter zu geben, dass dieser Atomare Super-GAU des Jahres 1986 als „Warnung an alle!“ gelesen werden kann. Ist dieses Anliegen durch die japanische Katastrophe überholt? Bestimmt nicht. Zum 25. Jahrestag von Tschernobyl heißt Fukushima auch, dass Tschernobyl als Warnung an die Welt nicht ernst genug genommen wurde.

 

Der Philosoph Günther Anders, der mit seinem Buch „Hiroshima ist überall“ schon in den 50er Jahren zu den Atombomben auf Japan und den Folgen gearbeitet hatte, beklagte nach Tschernobyl:

 

Die Unfähigkeit von heute ist nicht die Unfähigkeit zu denken, sondern die Unfähigkeit sich etwas vorzustellen.“

 

Gegen diese Unfähigkeit sich etwas vorzustellen, wollen wir mit dem Projekt „Expeditionen“ 25 Jahre nach Tschernobyl arbeiten.

 

Nochmal Günther Anders aus dem Jahre 1986: „Die atomare Katastrophe vernichtet die Vergangenheit, zerstört die Gegenwart und greift nach der Zukunft“

 

Wir wissen, dass das tatsächliche Ausmaß der Folgen von Tschernobyl nie vollständig wird dargestellt werden können. Trotzdem hielten wir es für richtig, den Beschwichtigern und Abwieglern in der Atomindustrie, in europäischen Regierungen, aber auch in der WHO und der IAEA die Bewertungen unbequemer Wissenschaftler entgegen zu stellen. Die wichtigsten Schlussfolgerungen in „The other Report on Chernobyl (TORCH)“, den wir 2006 zum 20. Jahrestag veröffentlichten, sind bis heute aktuell:

 

Weißrussland, Ukraine und Russland wurden stark kontaminiert. Mehr aber als die Hälfte des radioaktiven Niederschlags ging außerhalb dieser Länder nieder.

 

40 % der Fläche Europas waren und sind betroffen.

 

2/3 der Kollektivdosis verteilen sich auf die Bevölkerung außerhalb Weißrusslands, der Ukraine und Russlands.

 

Die internationale Atomenergieagentur fälschte einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation und rechnet mit wenigen Hundert zusätzlichen Toten durch Tschernobyl.

 

Unsere Forscher schätzen – je nach Risikofaktor - und auf der Grundlage von Studien, die alle durch eine Peer Review gegangen sind, dass es 30 000 bis 60 000 zusätzliche Tote geben wird. Schilddrüsenkrebs war in den ersten Jahrzehnten dominant. Weitere Krebsarten treten erst 20 Jahre nach dem Unfall deutlich in Erscheinung.

 

Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Unfall sind die Aufräumarbeiten in der Zone nicht abgeschlossen. Die Brennelemente der stillgelegten Blöcke 2 und 3 sind noch nicht entladen. Rund um das Kraftwerk ist hochradioaktiver Müll in unbekannter Menge vorläufig begraben. Tausende von Menschen arbeiten in der Zone. Von Helden ist heute nicht mehr die Rede.

 

Gefeiert wird von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zum 25. Jahrestag die Planung des Shelter Projektes, eines Projektes der Superlative: Über eine 1,5 Milliarden Euro wird der Bau kosten. Auf Schienen soll die Konstruktion über den Unglücksreaktor gefahren werden. Der Shelter wird 29 000 Tonnen wiegen, 257 Meter überspannen, 167 m lang und 110 Meter hoch sein. Die Freiheitsstatue hätte Platz darin, schreibt die EBRD und lobt sich für dieses in der Geschichte der Ingenieurskunst einmalige Bauwerk.

 

Bis heute wird über die schleichende Verseuchung des Grundwassers in der Zone, über die Bedrohung des großen Flusses Dnepr geschwiegen. Nachvollziehbare Antworten auf die Fragen, ob der Shelter, der mit so viel Hurra geplant wird, wirklich gebraucht wird, wie groß das radioaktive Inventar im ersten Sarkophag ist, gibt es nicht. Ob andere Maßnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt rund um Tschernobyl effektiver wären? Eine transparente Abwägung findet nicht statt. Fest steht, dass die großen internationalen Firmen gute Geschäfte mit dem Shelter machen. Ein großer Teil des Geldes aus den Geberländern fließt direkt zurück.

 

Und noch mal zurück zu Anders: „Dass wir niemals dagewesen sein werden“

 

Die Zerstörung der Gegenwart und die Vereinnahmung der Zukunft durch die radioaktive Verseuchung, davon handeln immer wieder Studien und Konferenzen, die leider nie genug Aufmerksamkeit gefunden haben. Von der dritten Dimension der Vernichtung, von der Günther Anders spricht, von der Vernichtung der Vergangenheit ist nicht oft die Rede. Es gibt die Bilder von den Dörfern in der Zone, die vom Wald geholt werden. In diesen Bildern liegt ein Trost, der davon handelt, dass die Natur doch stärker ist. Aber von wegen tröstende Kraft der Natur: an vielen Orten der Zone zeigen die Messgeräte noch 25 Jahre nach dem Unfall höhere Strahlung als gestern in der Zone um Fukushima.

 

Dass wir niemals dagewesen sein werden, fasste Günther Anders die Folgen der Atomkatastrophe zusammen. Das Expeditionen - Projekt versucht auch den Verlust von Vergangenheit, die Vernichtung von Geschichte in der Atomkatastrophe vorstellbar zu machen.

 

Die große Region Polissje gilt als die Wiege der slawischen Kultur. Die Stadt und das Sperrgebiet und weite Teile der am meisten belasteten Gebiete der Ukraine gehören zu Polissje. Rund um die Stadt Tschernobyl hätte die bäuerliche Kultur Polissjes fast sowjetische Zeit überdauert. Bis das Kraftwerk Tschernobyl und die Musterstadt Pripjat kamen, hatte der in Moskau geplante Fortschritt einen Bogen um die Region und ihre Sümpfe geschlagen. Schon vor der Katastrophe waren Tschernobyl und das Umland deshalb Ziel ethnologischer Forschung. Nach dem Untergang der Sowjetunion – die IAEA führt den Untergang des Weltreichs entscheidend auf Tschernobyl zurück – und nach der ukrainischen Unabhängigkeit starteten diese Expeditionen neu. Ein Team um den Ethnologen Omeljaschko und die Dichterin Lina Kostenko bemüht sich seit 1990 gegen das Verschwinden der Spuren von Polissje zu arbeiten. Sie durchkämmten die Zone, sie sammelten, sie schrieben, sie fotografieren, sie filmen. Im letzten Jahr bin ich mit Omeljaschko durch ein großes altes baufälliges Lagerhaus in Kiew gelaufen. Es hat weder Licht noch Heizung. Es regnet rein. Es ist vollgepackt mit hunderten, tausenden Stücken bäuerlichen Gerätes. Töpfe, Krüge, Fässer, besticktes Leinen, Ikonen … jedes hat sein Abteil, von allem gibt es hundertfach. Später waren wir im Fotoarchiv. Jede Expedition seit den 90ern wurde dokumentiert. Jede Veränderung in Bild und Ton und Text festgehalten.

 

Die Expeditionisten kennen in den Dörfern der Zone alle Rückkehrer, jeden Mann und jede Frau. Sie feiern mit ihnen Geburtstage, sie tragen sie zu Grabe. Die Stalker um Rosteslaw Omeljaschko und Lina Kostenko verdienen alle unsere Aufmerksamkeit. Mit allen Machern des Expeditionenprojektes wünsche ich, dass ihre Arbeit über und gegen die Vernichtung von Geschichte endlich richtig gesehen wird. Sie wird helfen, die Katastrophe richtig zu lesen.

 

So viel wissen wir über Tschernobyl. Was wissen wir über Fukushima?

 

Die Nachrichten aus Japan sagen, dass doch über die 20km Zone hinaus evakuiert wird. Seit Wochen wissen wir, dass drei Reaktoren und Kompaktlagerbecken außer Kontrolle sind. Wir wissen nicht, wie weit die Kernschmelzprozesse sind. Wir wissen nicht, ob und wie und wann die todesmutigen Arbeiter, Feuerwehrleute und Soldaten die Atomanlage unter Kontrolle bringen können. Jedes weitere Erdbeben kann die Lage verschlimmern.

 

Anders als vor 25 Jahren verfolgen wir die Entwicklung quasi live am Monitor.

 

Die westliche Welt ist entsetzt:

 

Dass das alles in Japan passiert, diesem Hochtechnologie-Land!

Und dieses Land hat nicht genug Schutzanzüge.

Keine Schutzräume für die Rettungsmannschaften, nur bleiverstärkte Laken als Schutz während der Pausen.

Nur Kekse gab es als Notverpflegung für die Helden von Fukushima.

 

Die Welt ist auch fasziniert:

 

Von der Ruhe der Japaner. Von ihrer Gelassenheit. So wie in den Tagen von Tschernobyl höre ich immer wieder, wie viel Bewunderung man denen zollt, die die Ruhe bewahren und denen, die das atomare Feuer bekämpfen. Ich höre selten die Frage, ob es denn zu dieser Ruhe und diesem Mut der Verzweiflung überhaupt eine Alternative gibt. Das Prädikat Helden wird großzügig verteilt. Gleichzeitig wird erklärt, so viele freiwillige Helden würde es in unseren Gesellschaften nie geben. Wenn das stimmt, wie konnten wir das atomare Abenteuer je wagen?

 

Kenzaburo Oe, 2011: „Bei einem Atomdesaster, dem alle Nationen zum Opfer fallen können, sind Heldentaten unmöglich“

 

Zu den Arbeitern an der Front von Fukushima hat der japanische Nobelpreisträger Kenzaburo Oe in einem Interview der taz, erklärt: „ Bei dem Desaster gibt es keine Helden“. In diesem Interview stellt Oe seinen japanischen Mitbürgern anlässlich von Fukushima traurige Fragen:

 

„Galt das Interesse der Japaner trotz ihrer Erfahrung in Hiroshima in den 66 Jahren danach nicht weniger dem großen menschlichen Desaster als vielmehr der Weiterentwicklung von Atomwaffen – und zwar amerikanischer Atomwaffen? Weil sie der Meinung sind, durch den atomaren Schutzschirm der USA den Frieden bewahren zu können? Hat nicht die auf Wissenschaftsgläubigkeit beruhende Kernenergie mit ihrer enormen Macht das Florieren der japanischen Industrie garantiert? Beide, der Glauben an Atomwaffen und der Glaube an atomare Energie bedingen sich gegenseitig. Und führt uns die jetzige Katastrophe nicht vor Augen, dass die Japaner mit ihrem Interesse für Atomenergie die Atombombenopfer verraten haben? Auf dem Kenotaph im Friedenspark von Hiroshima steht der Schwur: Ruhet in Frieden. Wir werden diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“

 

Oe stellt aber nicht nur traurige Fragen. Er formuliert auch Hoffnung: „…. die humanen Anstrengungen der Atombombenopfer, die ebenfalls verstrahlten Ärzte eingeschlossen, zum Wiederaufbau und die dadurch entstandene Würde haben die Japaner nach Hiroshima mit Stolz erfüllt. Ich spreche hier vom Stolz nicht vom guten. Auch jetzt, nach Fukushima, treten diese positiven humanen Anstrengungen deutlich zu Tage. Überzeugt davon, dass die Japaner diese Tragödie überwinden werden und ihnen der Wiederaufbau gelingt, will ich das Meine dazu beitragen. Dabei sollte es nationaler Konsens sein, dass nicht die Entwicklung der Atomenergie sondern das durch die Zerstörung des Atomkraftwerkes verursachte humane Desaster die Grundlage für den Wiederaufbau und die Zukunft Japans sein muss.

 

Oe appelliert in diesem Interview an Japan – und an uns:

 

Wir sollen uns vom Glauben an die atomare Abschreckung und vom Glauben an die Atomkraft lossagen.

 

Zäsur oder Umkehr

 

Über Tschernobyl wissen wir schon sehr viel. Dieser größte atomare Unfall - bis Fukushima ereignete sich vor 25 Jahren, einem Vierteljahrhundert . Der Super-GAU bremste damals die Expansionspläne der Atomindustrie. 20 Jahre sind vergangen, bevor überhaupt Neubauten in der EU gestartet wurden: EU-weit sind das bis heute ganze 2 in 25 Jahren. Noch anhaltender wirkte schon vorher die Kernschmelze von Harrisburg 1979: In den USA ist seit 1979 kein Neubau eines Atomkraftwerkes begonnen worden! Selbst die Statistik der IAEA zeigt, dass trotz aller Propaganda ein neuer atomarer Bauboom nicht in Gang kam.

 

Nicht deutsche Angst, sondern deutsche Vernunft setzt sich durch

 

Fukushima hat nun eine neue Atomdebatte in Gang gebracht. Reden wir über die neue deutsche Ausstiegsdebatte. Diese Debatte und damit die Möglichkeit zu einem viel rascheren Ausstieg als wir bisher gedacht haben, die gibt es, weil die Mehrheit der Deutschen das will. Und die gibt es auch, weil diese Mehrheit das erste Mal bereit ist, die alten Pro-Atom-Parteien abzuwählen. Die Aufgabe, die sich den Atomkraftgegnern insgesamt stellt, heißt, diese neue Chance jetzt zu nutzen. Nicht das Entlarven des alten politischen Gegners, nicht der Streit um sofort, 2015 oder doch erst 2017 darf uns umtreiben, sondern einzig die Frage, wie wir mit der Mehrheitsmeinung das Megarisiko in unserem Lande so schnell es geht hinter uns lassen. Die Möglichkeit zu einer breit verankerten Entscheidung zur Umkehr zu kommen, die Möglichkeit die Energiewende jetzt unumkehrbar zu machen, die will genutzt werden.

 

Hier in der wendländischen Heimat heißt das auch, sich zum Thema Atommüll einzumischen. Wenn in Deutschland jetzt die Risiken der Atomkraft neu bewertet werden, dann muss auch das Desaster um den Atommüll auf den Tisch. Verantwortbares Vorgehen ohne Neuanfang bei der Endlagersuche gibt es nicht.

 

Und Deutschlands Entscheidung wird international von Bedeutung sein. Ob Polen einsteigt in die Atomkraft, ob in der Schweiz wirklich neu gebaut wir, ob die Türkei allen Ernstes in einem Erdbebengebiet mit Tepco und mit Rosatom neue Atomkraftwerke bauen wird? Berlusconi hat seine atomaren Pläne schon aufgegeben. Man hört; Siemens erwägt, die Atomsparta aufzugeben.

 

Alle Nachrichten aus Japan schnüren einem weiter die Kehle zu. Sorgen wir jetzt so gut wir können dafür, dass die Katastrophe sich nicht noch einmal wiederholen muss.

 

Das Expeditionen Projekt verbindet Atomkraftgegner in Kiew, Warschau, Berlin, Gartow, Freiburg, Brüssel und Hamburg. Dass es stattfinden kann, ist sehr stark Jochen Herbst und dem WWK und Walter Mossmann, Eva Morat und Institutionen der Stadt Freiburg zu verdanken. Unsere ukrainische Stütze war Lidiya Hutnik. Und ich selber habe sehr oft in den schwierigen Jahren der Vorbereitung an Undine von Blottnitz gedacht. Undine und ich haben 1986 die ersten Berichte für das europäische Parlament über die europaweiten Folgen von Tschernobyl zusammengetragen. Auch für sie arbeiten wir weiter.


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