Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atom    30 | 05 | 2011

Kanzelrede in der St. Matthäus Kirche, Berlin

Rebecca Harms hielt am Sonntag, den 29. Mai 2011, in der St. Matthäus Kirche in Berlin im Rahmen der Predigtreihe "Frei:Mut" eine Kanzelrede. Im Rahmen der Predigtreihe legen Politikerinnen und Politikern einen biblischen Text aus, der anlässlich des Themenjahres “Reformation und Freiheit” der Lutherdekade die evangelische Freiheit in den Mittelpunkt rückt. Rebecca Harms redete zum Bibelzitat: “denn das ist der Wille Gottes, dass ihr mit guten Taten den unwissenden und törichten Menschen das Maul stopft, als die Freien und nicht als hättet ihr die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit , sondern als die Knechte Gottes.”

 

Ihre Rede im Wortlaut:

 

Liebe Gemeinde,

 

“denn das ist der Wille Gottes, dass ihr mit guten Taten den unwissenden und törichten Menschen das Maul stopft, als die Freien und nicht als hättet ihr die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit , sondern als die Knechte Gottes.”

 

 

Ich gestehe, ich war zuerst erschrocken, dass die Kanzelrede, die ich zugesagt hatte, sich mit diesen Worten befassen sollte.

 

 

Was hat mich erschreckt? Sie können es sich vielleicht denken. Der Wunsch, den Unwissenden und Törichten das Maul zu stopfen, dieser Wunsch ist mir so gar nicht fremd.

 

Herr Pastor Küster aus Hannover, der Vater meines Mitarbeiters Jonathan, ermutigte mich dazu, die Worte zunächst mal nicht zu ernst zu nehmen. Er empfahl mir auch, durch Einordnung des Textes die Annäherung zu suchen.

 

Zur Einordnung:

Die Worte entstammen einem Petrusbrief an Christen der dritten, vierten und fünften Generation.

Sie leben in Kleinasien, in der Minderheit, als Fremdlinge, als Außenseiter, weil sie Christen sind. Sie haben einmal dazu gehört. Jetzt werden sie mit Misstrauen angesehen. Sie werden als “anders” wahrgenommen und empfinden sich als “anders”. Und es kommt noch schlimmer: Sie sind keine gute Gruppe sondern zerstritten. Und die unter ihnen ein Amt haben, üben dieses “um schändlichen Gewinns willen“ aus.

 

Das Ziel des Briefes, der an die “Auserwählten” gerichtet ist: Sie sollen Vorbild sein und durch rechtschaffenes Tun als Gemeinschaft erkennbar werden. Unter den Heiden.

 

Da heute hier in Berlin die Ethikkommission unter Klaus Töpfer mit ihren Empfehlungen zum Atomausstieg an die Öffentlichkeit tritt,

möchte ich in meiner Annäherung an die Petrussätze als Politikerin zu ihnen sprechen, die aus einer Minderheit, der Anti-Atom-Bewegung, in die Politik geraten ist. Gewählt wurde ich dank konstanter Erfolge der Grünen zunächst in den niedersächsischen Landtag. Heute arbeite ich im Europäischen Parlament.

 

Falls es sie je in meine Heimat verschlagen hat, dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, in dem auch das Dorf Gorleben liegt, dann werden Sie sich vorstellen können, dass meine Wähler von mir erwarten, dass ich allen Anhängern der Atomkraft das Maul stopfe, wo auch immer sie mir begegnen. Das gute Ziel rechtfertigt drastische Mittel. Umso mehr, wenn gute Ziele von Minderheiten vertreten werden. So haben wir gedacht. Und so denken wir immer wieder. Aber zum Glück für mich und andere sind wir doch auch anfechtbar vom Zweifel. Nicht am ehrgeizigen Ziel, wohl aber am Mittel! So gut ein Anliegen auch ist oder scheint: der, um dessen Maul es geht, wird das kaum als gute Tat empfinden, wenn es gestopft wird. Es sei denn, er ist hungrig und meine Speise mundet.

 

Warum sind heute Mehrheiten in Deutschland, einem der Industrieländer der Welt, gegen die weitere Nutzung der Atomkraft?

Wegen Fukushima. Ja.

Wegen Tschernobyl. Ja.

Weil man dieses atomare Feuer, wenn es außer Kontrolle gerät, nicht löschen kann.

Weil es vernünftig ist, sich davor zu fürchten.

Weil es Alternativen gibt.

 

Im Streit um das Atom haben die, die vernünftig genug waren, sich zu fürchten - und das waren anfangs weder in den Parteien noch in den Kirchen, auch nicht in Gewerkschaften oder Naturschutzverbänden nicht die meisten sondern die wenigsten - nicht nur gegen die Mehrheit demonstriert und gegen sie geredet. Über Jahrzehnte wurde der eigene Weg gesucht und verfolgt. Wissenschaft und Technik ließen sich auf das Neue ein. Neue Wirtschaftszweige und neue Arbeit entstanden. Eine neue Partei wurde gegründet. Die Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse war eine wichtige Voraussetzung dafür, die Machbarkeit der Energiewende zu zeigen. Der Machtwechsel zählte.

 

Aber schon ein weiterer Machtwechsel zeigte: Für das Ende der Atomkraft - und das gilt wohl für die meisten Ziele, die die Gesellschaft oder das Wirtschaftssystem einschneidend ändern sollen - werden die anderen, die Mehrheit, die Gegner des Guten doch auch gebraucht

 

 

Und da steht heute der Streit um die Atomkraft in unserem Land. An dem Punkt, an dem aus der Minderheits- die Mehrheitsmeinung werden kann. Traurig, dass es dafür Fukushima brauchte. Furchtbar, dass Tschernobyl dafür nicht genug war. Schade, dass jetzt das Ringen darum, wer dem anderen das Maul stopft, genauso bedeutend erscheint wie der Wunsch nach Lösung. Aber mal ehrlich: Das liegt nicht nur an Regeln, die wir Akteure auf der politischen Bühne selber setzen. Auch Bürger haben Lust am showdown und sind selber lieber bei den Überlegenen. Um dann aber den ewigen Streit eitler Politiker, deren Unfähigkeit sich zu einigen, bitte zu beklagen.

 

Wenn eine Katastrophe mit Folgen wie in Fukushima nun mehrheitlich auch für unser Land von niemandem mehr ausgeschlossen wird, ist der Wunsch nach schnellstmöglichem Ende naheliegend und plausibel. Aber auch mir fällt es schwer, die Jahreszahl 2017 oder 2021 allein für das Entscheidende zu halten. Der Unfall, vor dem wir uns fürchten, könnte auch 2015 eintreten. Oder 2022 in Schweden oder Frankreich passieren. Deshalb neige ich dazu, die breitest mögliche politisch gesellschaftliche Einigung zum Kriterium zu nehmen. Ich sehe darin die Chance auf Unumkehrbarkeit. Und ich bin überzeugt, dass mit einem breiten Konsens in Deutschland auch der Einfluss auf Entscheidungen in Nachbarländern wächst.

 

Ein wirklicher Konsens würde heißen, dass nicht einer oder eine Partei oder die Regierung gewinnt, sondern dass der Erfolg in der Einigung, der Versöhnung liegt. Voraussetzungen dafür, die noch nicht geschaffen sind, wären mehr Einbeziehung der Minderheiten durch die Mehrheit, mehr Nachvollziehbarkeit in den Verhandlungen. Wenn die neuen Atomkraftgegner hinter Angela Merkel ernst genommen werden wollen, dann müssen sie raus aus den Hinterzimmern der Politik und sie dürfen sich keine Hintertüren offen lassen. Meine Hoffnung ist, dass Regierung und Opposition anders als nach Tschernobyl angesichts der japanischen Tragödie reif sind, aus den gesellschaftlich eindeutigen Mehrheiten einen Konsens für den raschen Ausstieg zu schmieden, der nicht bei jeder Wahl in Frage gestellt wird.

 

In meiner Heimat rund um Gorleben mögen viele noch nicht einmal das Wort Konsens. Zwischen den wendländischen Bürgern und Bauern und Berlin stehen fast 35 Jahre Konfrontation. Wie kaputt das Verhältnis zwischen Bürger und Staat ist, zeigt sich bei jedem Castortransport. Statt überzeugender Argumente gab es auch bei wechselnden Regierungen die größten Polizeieinsätze der Republik. Um dem Bürger das Maul zu stopfen. Zu drastisch beschrieben? Ich bin mir da sicher: Eine Versöhnung in der Atomfrage kann es in und mit meiner Heimat nicht geben, wenn in Gorleben alles so bleibt wie es ist.

 

Beim Atommüll darf es nicht länger um Scheinlösungen gehen. Das Zauberwort von der Rückholbarkeit scheint mir auch den Wunsch zu spiegeln, dass man Fehler ungeschehen machen könnte. Im Falle Gorleben und beim Atommüll geht das nicht. Gorleben aufzugeben und die Suche nach einer Lösung neu zu beginnen ist die Forderung bei mir zuhause. Die Realität sieht anders aus: Im Dreischichtbetrieb wird das Endlager Gorleben untertage vorangetrieben, seit die Regierung das Moratorium beendet hat. Der Umweltminister Röttgen lässt Hunderte von Wissenschaftlern am Eignungsnachweis Gorlebens arbeiten. Es wäre besser, diese Anstrengung jetzt auf einen Neuanfang in der Atommüllfrage zu richten. Die beste Lösung für die Endlagerung zu finden ist eine Jahrhunderaufgabe. Politik, Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft müssen sich dieser Aufgabe mit dem Wissen von heute endlich ernsthaft stellen. Die Zeit dafür ist lange reif. Bisher ist die Politik dem nicht gewachsen.

 

 

Ein verlässlicher Ausstiegsplan ist Voraussetzung, eine andere Aufgabe zu meistern. Wie sollen die atomaren Kapazitäten ersetzt werden? Ein zurück zur Kohle darf es nicht geben. Wie kriegt man die Zustimmung für den kompletten Umbau eines Energiesystems auf Erneuerbare Energien und auf Effizienz? Viele Szenarien dafür sind auf geduldigem Papier verfasst. Aber erst eine Einigung nicht nur zum Ausstieg sondern zu den Umbauzielen kann dafür sorgen, dass wir uns nicht in vielen Einzelkonflikten mit Bürgern und Industrie verlieren. Nicht Beschleunigungsgesetze sondern Transparenz und Nachvollziehbarkeit sind das Gebot der Stunde. Ich sehe mich und meine Kollegen in den Parlamenten als diejenigen, die die Verantwortung für die Vermittlung des Umbauprozesses tragen. Ich weiß, dass es mühsam ist, über Trassen, Windparks oder Biogas zu diskutieren. Deshalb kommt es auf eine breite Einigung auf die neuen Ziele jetzt an. Wir müssen dem Bürger nicht den Mund stopfen, wir sollen ihm aber auch nicht nur nach dem Mund reden, wenn es gerade in den Wahlkampf daheim passt. Ein Muster, dass immer nur wieder dazu führt, dass nach erfolgreicher Wahl dann anders geredet wird als vorher.

 

 

Als Vorsitzende einer Bürgerinititiative in Gorleben und als Vorsitzende von kleinen Oppositionsfraktionen habe ich gelernt, dass Zwang und Überredung nicht die besten Mittel sind um große gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Die Kunst in der Politik fängt da an, wo Verständigungs- und Versöhnungsprozesse angestoßen und manchmal zu einem guten Ende geführt werden.

 

 

Manchmal müssen dafür die Gewählten ihr Lager, ihre Gruppe ein Stück verlassen, die Guten müssen die Anderen aufsuchen. Das können nicht immer wieder nur die sein, die wie Klaus Töpfer, Heiner Geissler oder Joschka Fischer schon den Freimut des politischen Altenteils genießen. Die Freiheit, in der politischen Debatte Grenzen nicht zu respektieren, die hat jeder. Der Umgang mit Freiheit ist aber nie nur eine Frage des Mutes sondern auch der Verantwortung. Damit aus Minderheiten Mehrheiten werden können braucht es auch den Zusammenhalt einer Gruppe. Uns Grünen, die wir noch reichlich Minderheitenanliegen vertreten, ist das immer bewusst.

 

In meinem Handeln haben mich Sätze von Hannah Arendt doch bis heute mehr geleitet als die von Petrus. Deshalb ein Zitat von ihr zum Abschluss: Das Resultat menschlichen Handelns lässt sich niemals mit der gleichen Sicherheit voraussagen, mit der wir das Endprodukt eines Herstellungsprozesses bestimmen können; daher sind die zur Erreichung politischer Ziele eingesetzten Mittel für die Zukunft der Welt meist von größerer Bedeutung als die Zwecke, denen sie dienen.

 

Ich wünschte, Klaus Töpfer, Ulrich Beck und die anderen Ethik-Experten würden heute der Kanzlerin nicht nur ihren Rat zur technischen Machbarkeit des Ausstiegs geben. Eine Empfehlung für Wege zur Einigung, die trägt, wäre schön. Und ich wünschte, Philip Rösler, Sigmar Gabriel, Claudia Roth und Gesine Lötsch hätten alle gleichermaßen Lust auf Verständigung in diesem historischen Fenster, das durch die furchtbare Katastrophe von Fukushima aufgestoßen wurde.


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