Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#atom    29 | 09 | 2008

Der GAU, der Müll, die Bombe

"Gibt es einen Grund, die Atomenergie angesichts des Klimawandels neu zu bewerten? Haben sich die Risiken der Atomenergienutzung verändert? Der GAU, der Müll, die Bombe - müssen wir diese Megarisiken heute anders bewerten, als zu dem Zeitpunkt, als sich in Europa nach der Katastrophe von Tschernobyl Mehrheiten gegen Atomkraft gefestigt haben? Müssen wir die Entscheidungen in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Schweden, Belgien, Spanien aus der Atomkraft auszusteigen überdenken? Müssen die Länder in der EU, die nie eingestiegen sind, also Irland, Dänemark, Polen, Italien, Griechenland, Spanien noch einmal neu an die Sache rangehen? Der GAU, der Müll, die Bombe - Gehen wir sie durch:

Die Bombe:
Heute, Jahrzehnte nachdem der Nichtweiterverbreitungsvertrag in Kraft getreten ist, gibt es auf der Welt mehr Staaten, die über Atomwaffen verfügen und mehr atomare Sprengköpfe als zum Zeitpunkt der Unterzeichnung. Mehr Länder haben heute Raketen, um diese Atomwaffen auch einzusetzen. Der Krieg im Irak wurde mit dem Verdacht, Saddam Hussein verfüge über die Bombe, begründet. Über dem Iran hängt wegen des Missbrauchsverdachtes die Kriegsdrohung. Indien und Pakistan haben atomar aufgerüstet. Nordkorea steigt gerade wieder ein. Das Risiko des Missbrauchs von ziviler Atomtechnik für militärische Zwecke ist ständig gewachsen. Zur Neubewertung der Atomenergie sage ich: Das Risiko ist heute größer als vor zwanzig Jahren. Die Bombe, in der Hand von Staaten oder Terroristen, ist schon für sich ein Risiko, das ausreicht, den Ausstieg aus der Atomkraft zu begründen.

Der GAU:
Zwanzig Jahre nach Tschernobyl versuchen Atomindustrie und die Internationale Atomenergieorganisation alles um die katastrophalen Folgen des GAUs in der Ukraine herunterzuspielen. Wie sehen diese Folgen aus? Wissenschaftler streiten über die Frage, ob es "nur" mehrere zehntausend oder doch hunderttausend Tote in Folge des radioaktiven Fallouts geben wird. Welch ein "nur"! Denn hinter diesem grauenvollen Streit bleibt auch verborgen, dass in der Ukraine, in Weißrussland und Russland zig-tausende Menschen krank, oft schwer krank sind, dass sie keine gute Versorgung haben, dass die Krankheit oft einher geht mit dem Verlust von Heimat. Verborgen bleibt, dass zwanzig Jahre nach dem GAU die Aufräumarbeiten am Ort des Unglücks andauern ohne dass die gefahren wirklich unter Kontrolle wären. Verborgen bleibt auch, dass z.B. in Wales noch über vierhundert Farmen ihre Produkte nicht normal vermarkten können, weil ihre Böden kontaminiert sind. In Teilen Skandinavien und in den Regionen der Alpen dürfen Wildfrüchte, Wildfleisch, Fisch auf unabsehbare Zeit nicht vermarktet werden. Systematisch wird die Auffassung verbreitet, eine Katastrophe, wie die von Tschernobyl, sei in "westlichen" Reaktoren nicht möglich. Nimmt man die Störfallstatistiken aus den Atomnationen zur Hand, ist das schnell widerlegt. Immer wieder waren wir in den letzten Jahren in Japan, Großbritannien, USA, Frankreich, Deutschland, Ungarn oder Schweden verdammt nahe an der Katastrophe. Nach offiziellen Berichten trennten uns während des Störfalles im schwedischen Forsmark im Sommer 2006 nur noch Minuten vom Durchgehen des Reaktors. Zwanzig Jahre nach Tschernobyl ist festzuhalten, dass die Atomkraftwerke gealtert sind, dass die Sicherheitskultur schlecht ist, dass sich Störfälle häufen, die man bisher ausgeschlossen hatte. Meine Neubewertung: Das Risiko, dass es zum Gau kommt, ist nicht geringer sondern größer geworden.

Der Müll:
1 Million Jahre! Für sage und schreibe eine Million Jahre müssen wir den Atommüll sicher eingeschlossen lagern. Schon diese "Million" zeigt die Dimension des Problems. Schauen wir nach Niedersachsen, meiner Heimat in Deutschland. Dort liegt nicht nur Gorleben, dort liegt auch das ehemalige Salzbergwerk Asse. Dieses Salzbergwerk wurde in den siebziger Jahren als Forschungsbergwerk genutzt. Durch das Endlager Asse läuft seit langer Zeit ein kleiner Bach. Aber trotz des Problems Wassereinbruch haben die Wissenschaftler und Ingenieure, die in der Asse Verantwortung tragen, jahrelang daran mitgewirkt, die Missstände zu vertuschen. Radioaktiv verseuchte Lauge wurde einfach in tiefere Kammern des Bergwerks gepumpt. Ein anderes Mittel, die Laugen loszuwerden war die Verdünnung und Einlagerung in konventionellen Untertagedeponien. Statt die Stilllegung vorzubereiten muss nun die Rückholung des Mülls aus der Asse geplant werden. Gerade mal 40 Jahre sind vergangen und das Versuchsendlager, das Untertagelabor ist völlig außer Kontrolle. Es kann - nach "nur" 40 Jahren noch nicht einmal sicher gesagt werden, was wann von wem in welcher Menge eingelagert worden ist.
Für Gorleben aber auch für Benken muss das Debakel in der Asse Konsequenzen haben. Für die Asse haben Bundesanstalten und wissenschaftliche Institute die Nutzung als Forschungsbergwerk empfohlen. Sie haben mit ihren Mitarbeitern auch die Verantwortung für die Durchführung der "Versuche" und den Umgang mit den Problemen im Betrieb. Es sind dieselben Institutionen und Personen, die federführend das gesamte deutsche so genannte Entsorgungskonzept entworfen haben. Und es sind dieselben Leute, die die Vorfestlegung auf Salz für das deutsche Endlager begründet haben ohne ein vorhergehendes systematisches vergleichendes Auswahlverfahren. Meiner Meinung nach hat ein großer Teil der deutschen Endlagerexperten in der Asse und mit den aktuellen Vertuschungsmanövern jede Glaubwürdigkeit verloren? Wessen Wort kann man noch ernst nehmen für Entscheidungen, die für eine Million Jahre getroffen werden sollen? Auch in der Schweiz sollte geklärt werden, wie viel Einfluss die deutsche Forschung und die Asse- Experten auf die schweizer Entscheidungen hatten. Wer hat für die NAGRA vielleicht auch in der Asse geforscht? Wie arbeitet die NAGRA mit Helmholtz München oder mit der GRS Braunschweig zusammen? Und eines steht fest: Vorfestlegungen auf Salz, wie in Gorleben geschehen, oder auf Opalinuston, wie in Benken zu befürchten, sind falsch.
Auch das Risiko Müll - im Lichte des Asse- Skandals - können wir heute besser bewerten: Es war und ist unterschätzt. Die ungelöste Endlagerfrage ist für sich allein ein Grund aus der Atomkraft auszusteigen.

Der GAU, der Müll, die Bombe: Mehr als 20 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl wissen wir mehr über die Megarisiken der Atomkraft. Es ist Heuchelei, angesichts des Klimawandels eine Hochrisikotechnologie als nachhaltige Energieerzeugung im Kampf gegen Klimawandel zu etikettieren, wie es eine Reihe namhafter Politiker heute gern tun. Von den Managern der Atomindustrie können wir nichts anderes erwarten. Trotzdem bleibt richtig: Erst durch den Ausstieg aus der Atomenergie wird der Weg frei für eine nachhaltige und über Generationen durchhaltbare Energiewirtschaft. Einsparung, Effizienz und Erneuerbare werden die Säulen sein, auf denen eine zukunftsfähige Energiewirtschaft gegründet werden muss. Die Klimaheuchler in aller Welt, die auf Atom setzen, blockieren in der Regel aber die Technologien, die uns aus der Sackgasse der bisherigen Überfluss- und Verschwendungswirtschaft heraus bringen können. Atomkraft ist kein Klimaschutz. Lasst Euch von den Klimaheuchlern aus Politik und Industrie nicht beirren! Ich hoffe, Euch dann am 8. November in Gorleben wieder zu sehen! Es ist an der Zeit, wieder auf die Straße zu gehen.
Atomkraft nein danke! Nucleaire non merci!


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