Rebecca Harms

Mitglied des Europäischen Parlaments in der Grünen/EFA Fraktion 2004-2019

#ukraine    27 | 09 | 2017
Blog

Erschütternde Begegnungen im Donbas

In den Tagen vor der Bundestagswahl traf sich der gemeinsame Ausschuss des Europaparlamentes und des Ukrainischen Parlamentes zum ersten Mal im Osten der Ukraine. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine war eine offizielle Delegation in das Kriegsgebiet immer wieder gefordert worden. Leider hatte Martin Schulz als Präsident des EU-Parlaments die Reise aus Sicherheitsgründen stets blockiert, während EU-Kommissare und selbst Mitarbeiter der Kommission in den Osten reisten.
 
Der kommende Winter wird der 4. Kriegswinter sein. Die Menschen im Donbas verlieren mehr und mehr die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation. Auch wenn ich seit dem Beginn des Krieges schon oft im Donbas und auch an der Frontlinie gewesen bin, gibt es bei jedem Besuch Begegnungen und Erlebnisse, die mir in die Glieder fahren. Über zwei davon aus den letzten Tagen will ich hier berichten.
 
Am Abend unserer Ankunft besuchten wir das Krankenhaus Mechnikow in Dnipro. Seit dem Sommer 2014 ist dieses Krankenhaus das wichtigste Kriegslazarett der Ukraine. Hier werden die schwersten Verwundungen behandelt. Tausende Soldaten und Zivilisten, die durch Minen oder im Beschuss verletzt wurden, wurden hier operiert. Am Anfang verloren die Ärzte sehr viele der Verwundeten. Heute überleben sehr viele Patienten dank der Ärzte, die ungewollt zu Spezialisten in diesem ungewollten Krieg wurden. Unser Besuch führte uns auf die Intensivstation. Der erste junge Soldat, an dessen Bett wir standen, war 17 Jahre alt - oder besser jung. Ein Waise ohne Familie. Er wird nach den Prognosen trotz seiner schweren Verwundungen überleben. Er wird aber kaum sehen können. Und er hat nur noch ein Bein. Als wir an seinem Bett standen, schien er aus einem bösen Traum aufzuschrecken. Wahrscheinlich haben wir ihm Angst gemacht, so hilflos wie wir da um sein Bett standen. Es sind diese Momente, in denen mir der ganze Irrsinn dieses Krieges, den Wladimir Putin gegen den gesellschaftlichen Aufbruch der Ukraine in Gang gesetzt hat, begegnet.
 
Am Morgen nach dem Besuch im Krankenhaus fuhren wir nach Avdiivka. Wahrscheinlich hätte nie jemand im europäischen Westen je von der Existenz dieser Industriestadt erfahren, wenn sie nicht immer wieder unter Beschuss geraten würde. Zum ersten Mal besuchte ich mit meinen Kollegen das AKHZ (im Bild), die große Kokerei, die immer noch Tausende von Menschen beschäftigt. Die Kokerei wurde über 60 Mal beschossen. Es ist ein Wunder, dass es dem Werksleiter und seinen Leuten immer noch gelingt den Betrieb aufrecht zu erhalten. Der Chef gilt als einer der Helden von Avdiivka an der zivilen Front. Uns wird schnell klar, dass die ganze Stadt an dem Betrieb der riesigen alten Kokerei hängt. Wegen der Arbeitsplätze. Aber auch wegen der Infrastruktur. Ohne den Betrieb der Kokerei gäbe es zum Beispiel keine Heizung für die Stadt. Sie hängt an der Fernwärme. Das Werk selber hängt mit seiner Wasserversorgung an einem Kanalsystem für die gesamte große Region. Ein Treffer des Werkes oder der Wasserversorgung würde existentielle Teile der Infrastruktur nicht nur Avdiivkas sondern einer großen Region lahm legen. Als wir vom Dach des Verwaltungsgebäudes des AKHZ auf das Werk und die Umgebung blicken, können wir den umkämpften Flughafen von Donetsk sehen. Die Front verläuft etwa 5 Kilometer entfernt. Die Kokerei befindet sich in Reichweite der schweren Waffen in Donetzk. Sie gehört mit etlichen anderen Chemiefabriken schon im Normalbetrieb zu den großen Risiken für Mensch und Umwelt im Donbas. Bei dieser Besichtigung trug ich keine kugelsichere Weste wie sonst oft, sondern Schutzbrille und Jacke gegen den Staub und die beißende Luft. Mögliche Angriffe oder auch die unabsichtliche Zerstörung der großen Chemiefabriken entlang der Front im Donbas können einen das Fürchten lehren. Diese großen Gefahren für die Menschen und die Umwelt im Donbas müssen unbedingt Teil der Minsker Verhandlungen werden.
 
Wir hatten auch ermutigende Treffen. Zum Beispiel in der Schule von Avdiivka, in der sich die Lehrerinnen und Lehrer um einen guten Alltag für die Kinder bemühen. Es war gut zu sehen, dass versucht wird, den Kindern in Avdiivka und anderswo im Donbas das Leben etwas zu erleichtern. Aber es ist unerträglich, dass die Kinder im Donbas dem 4. Weihnachten im Krieg entgegen sehen.
 
Nach unserem Besuch im Donbas trafen wir in Kiew auch den OSZE Botschafter Ertugrul Apakan, der für die Beobachtungsmission verantwortlich ist. In der Woche unseres Besuches wurde überall der Vorschlag einer UN Blauhelmmission diskutiert. In unserer Delegation hält keiner den Vorschlag Putins für akzeptabel. Aber gerade nach dem Besuch erscheint es allen richtig, jede Möglichkeit auszuloten, die zu einem Ende der Kämpfe und des Krieges führen und der Ukraine die Kontrolle über ihre Grenzen und ihr Territorium zurückgeben könnte. Apakan appelliert an uns den Schutz der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die im Donbas unter dem Krieg so furchtbar leiden.

Wir nehmen seinen sehr ernsten Appell mit nach Brüssel und in die Hauptstädte der EU. Auch wenn die bisherigen Vereinbarungen zum Waffenstillstand nie gehalten haben, muss das Bemühen darum für die Menschen im Osten der Ukraine weitergehen.
 

 


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