1. Oktober 2015, Büro Rebecca Harms
Der VW Skandal
Der Diesel-Skandal bei VW dreht sich um die illegale Anwendung von Software in Fahrzeugen, die erkennen kann, ob ein Auto im Testmodus oder real gefahren wird. Die Abgasreinigung wird im Normalbetrieb abgeschaltet, so dass Abgasgrenzwerte nur im Testmodus eingehalten werden, im Normalbetrieb aber um das Vielfache überschritten werden. Wie in den USA, so regeln auch in Deutschland beziehungsweise in den EU Mitgliedstaaten rechtliche Verordnungen - in diesem Falle (EG) 715/2007 und 692/2008 - dass die Abgasgrenzwerte nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch im Normalbetrieb eingehalten werden müssen. Die Verwendung von Software zur „Zykluserkennung“, wie sie durch EPA gerade in den USA VW und Audi zweifelsfrei nachgewiesen wurden, ist auch in der EU nach (EG) 715/2007 ausdrücklich verboten.
VW hat zugegeben, dass weltweit in rund elf Millionen Diesel-Fahrzeugen die Software eingebaut wurde, die die Emissionskontrollen fälscht. Laut Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt sind in Deutschland 2,8 Millionen Fahrzeuge betroffen.
Der Fall wirft Fragen auf im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes, des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes, der Unternehmensverantwortung, der Implementierung und Durchsetzung von EU Gesetzgebung, der EU Wettbewerbsfähigkeit und nicht zuletzt der Unangemessenheit europäischer Prüfverfahren.
EU Emissionen: Diskrepanz zwischen Labor und Straße
EU Testzyklen liefern auch ohne illegale Tricksereien seit Jahren falsche Abgaswerte. Das gilt für Diesel wie Benziner. Insbesondere mit Inkrafttreten der CO2-Gesetzgebung 2008 hat sich die Kluft zwischen Herstellerangaben auf der einen und realem Spritverbrauch und Realemissionen auf der anderen Seite immer stärker vergrößert.
So hat der International Council on Clean Transportation (ICCT) 2014 die NOx-Emissionen von 15 modernen Diesel-Pkw gemessen und festgestellt, dass die realen Emissionen im Schnitt sieben Mal so hoch sind wie der gesetzliche Grenzwert. Beim CO2 liegen die Testergebnisse nach Angaben des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland (VCD) im Schnitt um 40 Prozent unter den realen Emissionen.
Derzeit wird EU-weit und damit auch in Deutschland ein Testverfahren angewandt, das Neuer Europäischer Fahrzyklus (NEFZ) heißt. Dieser Zyklus dient sowohl zur Ermittlung des Kraftstoffverbrauchs, des Ausstoßes von Kohlendioxid (CO2) und von Stickoxiden (NOx). Die NEFZ-Tests finden unter Laborbedingungen statt. Alle Hersteller - nicht nur VW - schaffen Bedingungen bei diesen Tests, die in der Realität nicht existieren, damit ihre Fahrzeuge im Test besonders gut abschneiden. So werden Leichtlaufreifen, Leichtlauföle und erhöhter Reifendruck verwendet und elektrische Verbraucher wie Klimaanlagen deaktiviert oder gleich ausgebaut, um Gewicht zu reduzieren.
Wir als Grüne/EFA haben seit langem und immer wieder auf diese Diskrepanz zwischen im Labor gemessenem und tatsächlichem Ausstoß hingewiesen und Anpassungen der Testzyklen gefordert. Doch die Einführung neuer, realistischerer Abgastests wurde über Jahre von der Automobilindustrie, vor allem aus Deutschland und auch von der Bundesregierung, bei den Verhandlungen in Brüssel systematisch blockiert: > Die Zeit, 8. November 2008: "Eingemischt und ausgebremst"
Die EU will von 2016 an schrittweise ein neues Messverfahren für Verbrauch und Schadstoffausstoß von Fahrzeugen einführen. Der Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedures (WLTP) ist ein neuer Labortest, der Schwächen des NEFZ ausräumen soll. Er ist dynamischer und entspricht mehr einem realen Fahrzyklus. Der Real Driving Emission (RDE) für Diesel ist realistischer als ein Labortest, weil er mit mobiler Ausrüstung tatsächlich auf der Straße angewandt wird. 2016 startet der Testbetrieb. Die neuen Messmethoden sollen nach dem Willen der EU von 2017 an gelten.
Die neuen EU-Prüfverfahren sind nach Ansicht der Grünen/EFA nur ein erster Schritt zur Schließung der Lücke zwischen Labor und Realität und zu mehr Gesundheits- und Klimaschutz. Notwendig ist darüber hinaus die Änderung der Art und Weise, wie Fahrzeuge überprüft, reguliert und besteuert werden. Die Kontrolle und Durchsetzung von europäischen Standards müssen verstärkt werden. Zu den Änderungen im System müssen auch ambitionierte CO2-Vorgaben für 2025 gehören, basierend auf dem WLTP, mit gestärkten Rahmenbedingungen für Abgastests sowie transparente Verbraucherinformationen.
Bessere Luft, das ist das Ziel
Bei all diesen Maßnahmen im Detail sollten wir das übergeordnete Ziel der Luftreinhaltung nicht aus den Augen verlieren. Denn hier schließt sich der Kreis von vorsätzlicher Manipulation bei der Abgasnachbehandlung durch VW über legale Tricksereien auf dem Prüfstand bis letztlich den überschrittenen Grenzwerten für Luftreinhaltung in deutschen Städten: Im Kern sind die gesundheitsschädlichen Abgase, die aus den Auspuffrohren von Millionen Dieselmotoren strömen für das Scheitern der deutschen Luftreinhaltepolitik verantwortlich. Stickstoffoxide beeinträchtigen die Atemwege des Menschen direkt, sie reizen die Schleimhäute, verkürzen Leben.
Die EU-Kommission hat nun wegen teils starker Überschreitung von Stickstoffdioxid-Grenzwerten ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Unverhohlen kritisiert die Kommission in ihrem 23-seitige Schreiben vom 18. Juni 2015, dass Berlin sich auf der Erkenntnis ausruht, dass die Emissionen im Straßenverkehr die Abgasmessungen während der Zulassungsphase deutlich überschreiten und dass Konsequenzen bisher nicht gezogen wurden.
Die Grünen/EFA-Forderungen im Einzelnen:
1. Eine Untersuchung auf EU-Ebene, ob weitere/ähnliche Manipulationstechniken bezüglich weiterer Schadstoffe sowohl in Dieselfahrzeugen als auch Benzinern sämtlicher Hersteller eingesetzt wurden.
2. Die Einführung neuer, realitätsnäherer EU-Testverfahren (WLTP und RDE) bis spätestens 2017 mit einem Übereinstimmungsfaktor (Conformity Factor) von 1. Das bedeutet: Die Grenzwerte für 2020 dürfen nicht durch die Hintertür abgeschwächt werden. Die Automobilindustrie fordert, dass der zu erreichende Grenzwert für eine Übergangsphase von mehreren Jahren mit einem Übereinstimmungsfaktor multipliziert wird, um die Erreichung der Grenzwerte durch verbesserte Testverfahren nicht schwieriger für die Automobilindustrie zu machen. Im Klartext würde das bedeuten, dass der eigentliche Grenzwert erst mehrere Jahre später erreicht wird als ursprünglich in der Gesetzgebung vorgesehen. Begleitend muss die EU-Kommission eine Untersuchung einleiten, die sich mit den aktuellen Grenzwertüberschreitungen zahlreicher Fahrzeugtypen unter echten Fahrbedingungen befasst.
3. Eine Reform des europäischen Typprüfgenenehmigungsverfahrens mit der Möglichkeit unabhängiger Tests und Nachprüfungen an Serienfahrzeugen, nach Möglichkeit durch eine unabhängige Überwachungsbehörde mit der Befugnis zu Genehmigungsentzug und Rückrufaktionen.
4. Die Hersteller müssen angehalten werden, sämtliche Fahrzeuge mit eingebauter Manipulationstechnik zurückzurufen und Nachbesserungen vorzunehmen. Zum einen muss garantiert sein, dass die manipulative Software in den Autos überschrieben wird, zum anderen muss aber auch die Hardware dahingehend umgerüstet werden, dass die Stickstoffreduktion im vollen Modus zu leisten ist, also die Harnstofftanks auch hinreichend groß sind.
5. Die steuerliche Vorzugsbehandlung von Diesel in einigen Mitgliedstaaten muss angesichts der Probleme mit der Luftreinhaltung überdacht werden.
6. Ambitionierte Folgegrenzwerte für den CO2-Ausstoß von Neuwagen ab 2025.